1November 1978 – Vung Tham, Vietnam
Es gibt die Abschiede und dann das Herausfischen der Leichen – alles dazwischen bleibt Spekulation.
In den Jahren darauf ließ Thi Anh die entsetzlichen Erinnerungen an das Boot und das Lager aus sich herauströpfeln, bis sie nur noch ein Flüstern waren. Diesen letzten Abend jedoch hielt sie mit aller Macht fest, angefangen bei dem Duft von dampfendem Reis in der Küche bis hin zu der Berührung der Haut ihrer Mutter, als sie sie das letzte Mal umarmte.
Ihre Mutter, erinnerte sie sich, kochte gerade ihr Lieblingsgericht, karamellisiertes Schweinefleisch mit Eiern, und summteTous les garçons et les filles von Françoise Hardy. Zwar hatten die Franzosen Vietnam vor fünfundzwanzig Jahren verlassen, ihre Musik aber war noch immer präsent, Yéyé-Melodien erklangen in den Häusern des Dorfes Vung Tham. Im Zimmer nebenan packte Anh ihren Rucksack und überlegte, was sie mitnehmen und was sie zurücklassen sollte. »Pack nur das Nötigste ein«, hatte ihr Vater gesagt. »Auf dem Boot ist nicht viel Platz.« Sie drückte die Schuluniform an sich, ehe sie sie einsteckte, den Faltenrock und die weiße Bluse mit den Ärmeln, die deutlich zu kurz waren für ihre sechzehnjährigen Arme.
Ihre Brüder Thanh und Minh taten im Zimmer gegenüber das Gleiche, ihre Sachen lagen quer über den Fliesenboden verstreut, und sie hörte, wie sie miteinander stritten. Sie mussten sich einen Rucksack teilen, und Thanh fand, dass Minh weniger einpacken dürfe als er, da seine Kleidung etwas größer ausfiel, weil Minh dreizehn war und er zehn. »Deine Sachen nehmen viel mehr Platz weg. Es ist nur gerecht, dass ich mehr einpacken darf als du.« Ihre Mutter folgte dem Lärm und betrat das Zimmer, im Schlepptau den Geruch von karamellisiertem Fleisch. Als Thanh ansetzte, ihr die Angelegenheit zu erklären, versagte ihm die Stimme; durch den Ärger in ihrem Gesicht verpuffte sein banales Problem. »Tut mir leid«, murmelte er, und Minh grinste triumphierend. »Nicht so wichtig.«
Durch die offene Zimmertür sah Anh ihren jüngeren Bruder Dao, der den Streit von seinem Futon aus verfolgte. Ängstlich nestelte er an seiner Decke, das große blaue T-Shirt viel zu groß für ihn, ein Erbstück von Thanh. Anh wusste, dass er es nicht mochte, wenn sich seine Brüder stritten, aus Angst, eine Seite wählen zu müssen und den anderen zu verärgern. Von allen ihren Geschwistern machte sich Anh um Dao die meisten Sorgen. Sie machte sich Sorgen, wie sein Leben in Amerika aussehen und ob er trotz seiner Schüchternheit Freunde finden würde, wenn sie erst einmal dort wären. In den vergangenen Monaten hatte sie immer wieder versucht, ihn aus seinem Schneckenhaus z