1 Sobald eine Geschichte bekannt geworden ist, kann sie nie wieder unbekannt werden. Allenfalls kann man sie vergessen. Doch solange sie in unserem Gedächtnis lebt, wird sie, die Zeit überwindend, auch unsere Zukunft bestimmen. Weiser ist unter allen Umständen das Vergessen, weiser ist es, sich in der Kunst des Vergessens zu üben. Sich erinnern heißt, dem Feind ins Angesicht zu sehen. In der Erinnerung liegt die Wahrheit.
Ich heiße Frances Hinton, und ich schätze es nicht, wenn man mich Fanny nennt. Ich arbeite in der Präsenzbibliothek eines medizinischen Forschungsinstituts, in dem die Probleme des menschlichen Verhaltens untersucht werden. Ich verwalte das Bildmaterial, ein Archiv, das, wie es heißt, seinesgleichen in der Welt nicht hat, mit seinen fotografischen Wiedergaben von Kunstwerken, aber auch von volkstümlichen Drucken, auf denen Ärzte und Patienten aus allen Jahrhunderten zu sehen sind. Es ist eine Enzyklopädie der Krankheit und des Todes, denn früher konnte man nur wenige Krankheiten heilen, und wohl deshalb übten sie eine so schaurige Faszination auf die Fantasie der Zeitgenossen aus. Unser spezielles Interesse gilt den Träumen und dem Wahnsinn, und natürlich liegt das Schwergewicht unserer Sammlung eher auf allem, was sich dem planen Verständnis oder der Diagnose entzieht. Es gibt menschliche Verhaltensweisen, die uns ein Rätsel geblieben sind, aber wenigstens haben wir sie ordentlich in unserer Bibliothek registriert.
Ich arbeite mit meiner Freundin Olivia zusammen. Wir schreiben an die Museen und Gemäldegalerien wegen der Fotografien. Sobald sie bei uns eintreffen, kleben wir sie auf Karteikarten und tippen alle sachdienlichen Informationen darüber auf einen Papierstreifen, der dann ebenfalls auf die Karteikarte geklebt wird. Es ist außerordentlich interessant, wenn auch auf eine etwas makabre Weise. So viele Irre, so viele Gefängnishospitäler, so viel Elend. Und dass es immer noch weitergeht, dass so vieles ungelöst geblieben ist. Aber das ist glücklicherweise nicht mein Problem, obschon es offenbar den meisten der Leute, für die ich arbeite, großes Kopfzerbrechen bereitet.
Nehmen wir zum Beispiel die Melancholie. Ich könnte beinahe eine Abhandlung über die Melancholie schreiben, und das allein dank den Blättern in meiner Kartei. Auf den alten Drucken findet man die Melancholie für gewöhnlich als Frau mit zerzausten Haaren dargestellt, verstört, umgeben von zerbrochenen Krügen, umgestürzten Fässern und zerrissenen Büchern. Sie ist vielleicht in einen unruhigen Schlaf versunken, eine schwergliedrige Gestalt, überwältigt von ihrer Unfähigkeit, die Welt zu verstehen; sie hat den Kompass und das Buch beiseite gelegt. Sie ist Furcht erregend, aber der Mensch, dem sie am meisten Furcht macht, ist sie selbst. Sie ist ihre eigene Krankheit. Dürer stellt sie uns geflügelt dar, in einem plumpen weiten Kleid, auf dem strähnigen Haar einen Kranz. Ihr Gesichtsausdruck ist grimmig und ihre Verwirrung groß; sie ist umgeben von den Symbolen für das Studium, die Pflicht und das Leiden: eine Glocke, ein Stundenglas, eine Waage, eine Weltkugel, ein Kompass, eine Leiter und Nägel. Manchmal wird diese Gestalt auch inmitten von wucherndem Unkraut gezeigt, über dem Haupt ein Spinnengewebe. Ein andermal schaut sie aus dem Fenster zum Vollmond hinauf, denn sie ist mondsüchtig. Ist aber ein Mann von Melancholie befallen, dann, weil er an einer romantischen Liebe leidet. Er stützt den Arm, der in wattiertem Atlas steckt, auf ein samtenes Kissen und blickt unter einem Hut mit wippender Feder hervor zum Himmel; oder er ergreift einen Dornenzweig oder eine Brennnessel und gibt uns damit zu verstehen, dass er nicht schlafen kann. Auf mich wirken diese Männer allerdings so, als würden sie ein bisschen posieren, ganz anders als die Frauen, bei denen die Melancholie nicht so malerisch in Erscheinung tritt. Die Frauen machen den Eindruck, als stünden sie im Bann eines Kummers, der zu groß ist, um ihn in Worte zu kleiden. Die Männer dagegen wirken, als hätten sie sic