: Marie Brunntaler
: Eine Liebe von Bern Roman | Ein kurzer Moment, der alles verändern kann - was, wenn wir ihn verpassen? Ein Roman über das Berner Tanzmilieu der 1960er Jahre, über alte Liebe und neue Chancen
: Eisele eBooks
: 9783961611645
: 1
: CHF 14.30
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Von der Autorin des Romans 'Das einfache Leben' Zwei Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten - für wen wird sich Ballerina Nelly entscheiden? Den hochgewachsenen, charmanten Georges oder den unauffälligen Léon? Für Sicherheit oder Hingabe? Für klassischen Standardtanz oder moderne Beatmusik? Bern, 1967. Léon Seematter traut seinen Augen nicht: Nachdem er jahrelang erfolgreich die einzige Tanzschule in Bern geleitet hat, erscheint ein zweiter Tanzlehrer auf der Bildfläche, der Léon mit seinen modernen Tänzen zu Beatmusik Konkurrenz macht.  Es ist Georges Szell, ein alter Bekannter. Doch nicht nur er, auch das Auftauchen einer frechen neuen Schülerin nimmt Léon mit auf eine Reise in seine Vergangenheit - eine Vergangenheit, in der er schon einmal hinter Georges Szell zurückstecken musste. In ihrem vierten Roman erzählt Marie Brunntaler von der Rivalität zwischen zwei Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, von verpassten und von neuen Chancen - und von Geheimnissen, die das ganze Leben verändern können.  

MARIE BRUNNTALER wurde im Südschwarzwald geboren, studierte Biologie und arbeitete als Landschaftsplanerin in Heidelberg und Bonn, bevor sie ihrem Mann in die Schweiz folgte. Marie Brunntaler arbeitet als Landschaftstopografin im Berner Oberland. Eine Liebe von Bern ist ihr vierter Roman.

2

Bam bam bam, klar und edel, schlicht und getragen klang es auf dem Waldhauser-Flügel, solides Instrument des einzigen Schweizer Klavierbauers. Mit milden Augen schaute Herr Ungefahr in den matt erleuchteten Saal, während er zum ungezählten Mal die Quadrille spielte. Ungefahr brauchte dafür längst nicht mehr in die Noten zu schauen.

»Balancé«, sagte eine schneidende Stimme, auf die alle hörten. Bewegung entstand im Saal, Gleichmaß, und die Schönheit einstudierter Ordnung.

»Compliment«, ertönte die Stimme.

Junge Schweizer beugten ihre Köpfe, junge Schweizerinnen das Knie. Fünfzig Paare schritten vom Kopfende des Saales auf Léon Seematter zu. Der Tanzmeister stand erhöht da und hatte jede Nuance im Blick.

»Abfallen!«, befahl er.

Die Gruppen fielen auseinander.

»Traverser«, ordnete er an.

Paarweise durschnitten und durchkreuzten sie den Saal.

»In Linie bleiben!« Die Stimme des Meisters wurde schärfer. Er war oberster Richter und wurde zum Scharfrichter, wenn das Gesetz der Quadrille missachtet wurde. »Spyri, glauben Sie, ich sehe das nicht?«

André Spyri, der seit Jahr und Tag Tanzkurse bei Seematter belegte, aber immer noch zu den Anfängern zählte, war Berner Oberländer. Groß, blond, mit schweren Händen, noch schwereren Füßen, dazwischen das Fass seines kerngesunden Körpers. Spyri hatte eine verzweifelte Sehnsucht nach dem Zarten, Musischen, dem Tänzerischen, das jedem Menschen innewohnte, aber nicht bei jedem zum Ausdruck kam. Verbissen kämpfte er gegen das Handicap seines stämmigen Körpers. Rückschläge akzeptierte er nicht. Die Schelte und Demütigungen Seematters nahm er als Ansporn, es stets von Neuem zu versuchen.

»Großes Compliment«, rief Seematter in die Klasse.

Herr Ungefahr beendete die Quadrille mit einer Verzierung in Es-Dur und schlug das Notenheft zu.

»Ich hatte gehofft, dass Sie ein besonders graziöser Tanzkurs werden«, sagte Seematter in die Runde. »Leider habe ich mich getäuscht. Es gibt noch viel zu tun.« Er klatschte in die Hände. »Alles aufstellen zum Anstandsunterricht!«

Die Herde folgte ihm in den Vortragsraum. Seematter wartete, bis es mucksmäuschenstill wurde. »Der Tanzboden ist der Ort, an dem sich die Geschlechter auf korrekte Weise miteinander vermischen.«

Ein verstohlenes Kichern wies ihn darauf hin, dass seine Wortwahl missverständlich war. Einige Eltern wohnten dem Kurs am Rande des Saales bei, Eheleute, die ihrer schüchternen Tochter Zuversicht gaben, Mütter, denen der Stolz auf den tanzenden Sohn ins Gesicht gemalt war. Seematter korrigierte sich vor allem der Eltern wegen.

»Ich meine natürlich den Ort, wo Beziehungen seriös geknüpft werden können. Der junge Mensch muss lernen, die richtige Form und die rechten Worte zu finden. Was spricht man also während des Tanzens?«

Schultern strafften sich, junge Männerköpfe gingen hoch. Das war ein interessanter Punkt. Meistens, während sie auf ihre Schritte achteten, fiel ihnen keine geistreiche Konversation ein.

»Spricht ein Tänzer seine Partnerin mit den Worten an:Schwitzen Sie auch so stark?, so ist das ungehörig«, fuhr Seematter fort. »Schwitzen tut ein Pferd. Ein Mensch transpiriert. Sollte ein Herr tatsächlich ungewöhnlich stark transpirieren –« Seematters Blick wanderte tadelnd zu Spyri. »Dann darf ich auf meinen Parfum-Automaten aufmerksam machen. Er hängt im Übungszimmer. Nach Einwurf von zwanzig Rappen wird Ihn