15.
Vielleicht habe ich sie zu frommen Schäfchen gemacht. Vielleicht hätte ich nicht versuchen sollen, meine Schüler davon zu überzeugen, dass sich Lernen lohnt, um eine bessere Zukunft zu haben. Lieber hätte ich ihnen, losgelöst von Schule und Institutionen, die Liebe zur Kultur nahebringen sollen. Sie nicht der Angst vor Prüfungen aussetzen, sondern sie in die Freiheit entlassen und ihnen Leidenschaft für Bücher und Autoren vermitteln sollen, ohne dass sie befürchten mussten, dazu abgefragt zu werden. Wie sehr hätte mir dabei meine Muttersprache zur Seite gestanden, die einzige auf der Welt, in der das Wort liberossowohl freials auch Bücherbedeutet.
Generationen hungriger Wölfe hätte ich heranziehen können und nicht Lämmer, aus denen später Schafe wurden. Ich werde niemals erfahren, ob Johannes in seiner Offenbarung recht hat und sanftes, zahmes Verhalten wirklich der Schlüssel zu einer besseren Welt ist. Ich selbst habe es, in der Überzeugung, dass am Ende die Wahrheit triumphieren würde, an den Tag gelegt. Ich habe leidvoll die schlimmste Verdächtigung ertragen, der man einen Mann meines Alters aussetzen kann. Aber es war sinnlos. Agnus Dei qui tollis peccata mundi, miserere nobis.Am Ende meiner Tage ziehe ich meinen Lieblingsschülern nur jenearmen Verrücktenvor …
(Marcellino Nonies,Die Frömmigkeit der Schafe, Seite 8)
»Kommen Sie nur herein, Brigadiere.«
Dem Maggiore war die Erleichterung anzuhören. Die Lektüre des Manuskripts erwies sich als ermüdend, vielleicht kam dabei nicht einmal etwas heraus, bislang stand dort jedenfalls nichts von einem Verbrechen. Er erkundigte sich bei seinem Untergebenen, ob es Neuigkeiten gebe.
»Ja und nein«, lautete die ernste Antwort Ettore Tigàssus.
»Was soll das heißen, ja und nein? Soll ich jetzt Rätsel raten?«
»Wie schon gesagt, Signor Maggiore, taucht die Firma, auf die die Autos zugelassen sind, bei uns nirgendwo auf. Sie hat ihren Sitz im Ausland, auf irgendeiner britischen Insel.«
»Soll das ein Witz sein? Das sind öffentlich zugängliche Informationen, die kann jedermann einsehen. Geben Sie mir die Nummer.«
Der Brigadiere hatte mit dieser Aufforderung gerechnet und die Nummer auf einen Zettel geschrieben. Als er sah, dass der Maggiore sie ins Telefon eintippte, zog er sich mit dem Taktgefühl eines altgedienten Carabiniere aus dem Büro seinen Vorgesetzten nach draußen auf eine Bank im Korridor zurück. Von dort hörte er, wie der Maggiore immer lauter wurde und dann –beng.
Ein Hörer knallte auf die Gabel, und der Brigadiere wurde wieder ins Büro gerufen.
»Schließen Sie die Tür und setzen Sie sich.«
Der Maggiore wirkte sehr aufgebracht.
»Also, gehen wir alles noch mal von Anfang an gemeinsam durch. Wir suchen eine Straffällige, die hier in der Kaserne per Unterschrift ihre Anwesenheit dokumentieren muss. Wir haben einen toten Grundschullehrer, von der Tidòngia als derjenige angegeben, der sie beherbergen würde, außerdem hat er ein Traktat über die Bedeutung von Lämmern, Schafen und Wölfen unter den Menschen hinterlassen. Fünf Personen erscheinen zur Beerdigung eines Mannes, mit dem sie vermutlich während ihrer anarchistischen Sturm-und-Drang-Zeit Bekanntschaft gemacht haben. Eine Firma, über die wir außer dem Namen und dass es sich um eine Ltd handelt, nichts wissen. Und auf die sind fünf Autos zugelassen, mit jeweils fünf Fahrern, alle um die sechzig.«
»Es waren sechs. Da gab es noch den einen Jüngeren, der zu dem ins Auto gestiegen ist, bei dem es