: Ruth Ozeki
: Geschichte für einen Augenblick Roman | 'Einer der bewegendsten Romane, die ich seit langem gelesen habe.' Madeline Miller, Autorin von Das Lied des Achill
: Eisele eBooks
: 9783961611652
: 1
: CHF 13.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 592
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Am Ufer der einsamen Insel, auf der die Schriftstellerin Ruth lebt, wird das Tagebuch der sechzehnjährigen Japanerin Nao angespült. Ruth beginnt zu lesen: von Naos Familie, die von Amerika zurück nach Japan musste, von Naos Schwierigkeiten, in der Schule Anschluss zu finden, von der Depression, die alle in der Familie erfasst, und von Naos Urgroßmutter Jiko, einer weisen Nonne, bei der Nao die Grundlagen des Zen-Buddhismus erlernt. Ruth taucht tiefer und tiefer in die Geschichte der Schülerin ein und beginnt sich zu fragen, wer Nao ist, was mit ihr geschah - und warum ihr Tagebuch ausgerechnet bei Ruth landete. Ruth Ozekis Roman spannt den Bogen vom Zweiten Weltkrieg bis zum Tsunami in Japan in 2011, von der Schwere zur Leichtigkeit, vom amerikanischen Traum zum japanischen Zen-Buddhismus und erzählt dabei wie gewohnt von skurrilen Charakteren und mit einem Hauch magischem Realismus.

Ruth Ozeki ist Romanautorin, Filmemacherin und zen-buddhistische Priesterin. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet und schaffte es mit ihrem Roman Geschichte für einen Augenblick, übersetzt in 28 Sprachen, auf die Shortlist des Booker Prize. Zuletzt erhielt sie für ihren neuen Roman Die leise Last der Dinge den Women's Prize for Fiction 2022. Sie ist Mitglied der Everyday Zen Foundation und lebt in West-Massachusetts, wo sie Kreatives Schreiben am Smith College lehrt.

Nao


1


Hallo!

Ich heiße Nao, und ich bin Sein-Zeit, ich bin Sein, und ich bin Zeit. Weißt du, was das ist? Wenn du einen Moment hast, erzähl ich es dir.

Jeder, der in der Zeit lebt, ist Sein-Zeit, du, ich und jeder andere von uns, den es gibt, jemals gab oder geben wird. Ich sitze gerade in einem französischen Dienstmädchencafé in Akiba Electricity Town und höre ein trauriges Chanson, das irgendwann in deiner Vergangenheit spielt, die zugleich meine Gegenwart ist, schreibe dies und mache mir Gedanken über dich, irgendwann in meiner Zukunft. Und wenn du das hier liest, machst du dir jetzt vielleicht auch Gedanken über mich.

Du machst dir Gedanken über mich.

Ich mache mir Gedanken über dich.

Wer bist du, und was machst du gerade?

Hängst du an einer Schlaufe in der New Yorker U-Bahn, oder tauchst du in Sunnyvale in deinen heißen Whirlpool ein?

Liegst du auf Phuket am Strand in der Sonne, oder lässt du dir in Brighton die Fußnägel polieren?

Bist du Mann oder Frau oder irgendwas dazwischen?

Kocht deine Freundin dir ein leckeres Essen, oder isst du kalte Chinanudeln aus der Schachtel?

Liegst du eingerollt, deiner schnarchenden Frau kalt den Rücken zugewandt, oder wartest du, bis dein schöner Lover aus dem Bad kommt, um ihn dann leidenschaftlich zu lieben?

Hast du eine Katze, die auf deinem Schoß sitzt? Riecht ihre Stirn nach Zedernholz und frischer Luft?

Eigentlich ist es auch egal, denn wenn du das hier liest, wird schon alles anders sein, und du wirst dich an irgendeinem Ort befinden und dieses Buch träge durchblättern, das zufällig ein Tagebuch meiner letzten Tage auf Erden ist, und dich fragen, ob du weiterlesen sollst.

Und falls du dich entscheidest, nicht weiterzulesen, hey, kein Problem, ich habe eh nicht auf dich gewartet. Aber falls du weiterliest, dann stell dir vor! Du bist Sein-Zeit nach meinem Geschmack, und zusammen schaffen wir etwas Magisches!

2


Bäh. Das war dämlich. Ich muss mir mehr Mühe geben. Du fragst dich bestimmt, welche dumme Gans so was schreiben würde.

Na ja, ich würde.

Nao würde.

Nao bin ich, Naoko Yasutani mit vollem Namen, aber du kannst Nao zu mir sagen, wie alle anderen auch. Ich erzähle dir am besten ein bisschen mehr von mir, wenn wir uns weiter so treffen …!

Eigentlich hat sich nicht viel verändert. Ich sitze immer noch in diesem Dienstmädchencafé in Akiba Electricity Town, und Edith Pilaf singt ein weiteres trauriges Chanson, Babette hat mir gerade einen Kaffee gebracht, und ich habe daran genippt. Babette ist mein Dienstmädchen und auch meine neue Freundin, und mein Kaffee ist ein Blue Mountain, und ich trinke ihn schwarz, was für einen Teenager ungewöhnlich ist, aber eindeutig die Art und Weise, wie man guten Kaffee trinken sollte, wenn man nur ein bisschen Achtung vor der bitteren Bohne hat.

Ich habe einen meiner Strümpfe hochgezogen und mich hinten am Knie gekratzt.

Ich habe die Falten meines Rocks geradegerückt, sodass sie ordentlich auf meinen Oberschenkeln liegen.

Ich habe mein schulterlanges Haar hinters rechte Ohr geklemmt, das mit fünf Löchern gepierct ist, aber jetzt lasse ich es wieder züchtig vors Gesicht fallen, denn der Otaku4-Büroangestellte am Tisch nebenan starrt mich an, und das macht mir Angst, auch wenn ich es gleichzeitig amüsant finde. Ich trage meine Schuluniform aus der Junior Highschool und erken