1.Eiszeit
Der Winter kam früh. Über Nacht hatte strenger Frost eine Decke zart glänzenden Puderzuckers über Nordholland gelegt und die Dünen in eine Märchenlandschaft verwandelt. Bäume, Sträucher und Gräser hüllten sich in ein schimmerndes Kleid aus winzigen Eiskristallen, auf dem Boden glitzerte kandiertes Herbstlaub. Amelie war extra früh aufgestanden, um das zauberhafte Winteridyll für ihre Follower einzufangen. Seit sie an die Nordsee ins niederländische Bergen gezogen war, teilte sie ihre Tage nicht nur mit Philomena, sondern auch mit einer stetig wachsenden Zahl von Menschen, die ihrem Instagram-Kanal »Sachensuchen mit Amelie« folgten.
Der Ferienort ihrer Kindheit und die Gemeinschaft rund um dasCultuurdorp waren für sie zu einer neuen Heimat geworden, auch wenn das Leben in und mit der Natur oft eine Herausforderung darstellte. Holländer beschwerten sich leidenschaftlich gerne über das Wetter: »Zu heiß, zu kalt, zu nass, zu trocken, zu windig, zu unbeständig …« Doch als das Thermometer unter die magische Null-Grad-Grenze sank, verstummte das Dauerklagen schlagartig. Je niedriger die Temperatur, desto besser die Stimmung.
»Schlittschuhwetter«, jubelte Philomena.
Die anhaltende Kältefront versetzte ganz Holland in kollektive Euphorie. Das kleine Land, das von Entwässerungskanälen, Wasserstraßen und Seen durchzogen war, zelebrierte die stetig dicker werdende Eisdecke als Ereignis von nationaler Wichtigkeit.
Wollt ihr nicht kommen? schrieb Amelie an ihre drei Schwestern.Hier grassiert das Eisfieber.
Ihre Einladung stieß auf taube Ohren. Seit dem letzten Sommer war ihre Familie komplett zerstritten. Die ungeklärten Fragen rund um den Unfall des Vaters vor über zwanzig Jahren hatten Doro, Yella und die Zwillinge Amelie und Helen auseinanderdriften lassen. Jede der Schwestern versuchte auf ihre eigene Weise, sich mit ihrer exzentrischen Mutter zu arrangieren. Henriette Thalberg wehrte sich energisch dagegen, die ganze Wahrheit über den Tod des Vaters preiszugeben. Die Familienlegende wollte, dass ihr Vater in der Sturmnacht trotz grimmigster Wetterumstände ans Meer gefahren war, um einen Blick auf die aufgepeitschte Nordsee zu werfen. Diese Theorie war in sich zusammengebrochen, nachdem sie herausgefunden hatten, dass Johannes Thalberg an dem Abend nicht alleine gewesen war. Er hatte den Weg anscheinend mit einer heimlichen Geliebten angetreten. Bis heute war es ihnen nicht gelungen, die Frau, die ihren Vater in Abwesenheit der Mutter aufgesucht hatte, zu identifizieren.
Die dunklen Geheimnisse aus der Vergangenheit überschatteten die familiären Beziehungen. Yella und Doro beschuldigten sich gegenseitig, über die Sturmnacht gelogen zu haben, während Helen vor allem wütend auf ihre Mutter war, die sich aus unerfindlichen Gründen weigerte, ihre Version der Ereignisse mit den Töchtern zu teilen und den Namen der Unbekannten zu nennen. Doro stand wie immer bedingungslos zu ihrer Mutter und reklamierte so ganz nebenbei schon mal das mütterliche Erbe für sich alleine. Auf Kosten ihrer Schwestern! Kein Wunder, dass sie auf Amelies Einladung kurz angebunden reagierte:Keine Zeit.
Helen war da schon ehrlicher.Mir steht der Sinn nicht nach Familientreffen schrieb sie. Und von Yella erhielt Amelie statt einer Zusage einen Brief, in dem sie alles zusammengefasst hatte, was sie gemeinsam mit Helen über ihren Vater und die Unfallnacht herausgefunden hatte.
Es sollen keine Geheimnisse mehr zwischen uns stehen schrieb sie.
Yella hatte damals ihren Vater Arm in Arm mit der Fremden ertappt, jetzt hatte sie erstmals prob