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Lilla arbeitete in der Stadt und kam an den Wochenenden nach Hause. Ich habe sie immer nur Lilla genannt, nie Mama oder Mutter. Die Stimmung veränderte sich oft, wenn Lilla zu Hause war, der Puls des Hauses schien dann irgendwie schneller zu schlagen.
»Warum gehst du arbeiten?«, habe ich sie einmal gefragt. »Die anderen Mütter auf der Insel sind zu Hause.«
»Weil ich hier nicht wohnen kann, ich ertrage das nicht«, sagte sie. »In der Stadt gefällt es mir besser. Da kann ich leichter atmen.«
Die Antwort verwirrte mich, denn ich fand, dass die Luft hier bei uns viel besser war als in der Stadt. Ich dachte deshalb, dass es etwas mit mir zu tun haben musste und sie nicht die ganze Zeit mit mir zusammen sein wollte.
Bis ich auf die weiterführende Schule kam und zu Lilla in die Stadt zog, wohnte ich bei Großvater und Großmutter auf der Insel. Während meiner gesamten Kindheit pflegte ich auf der Mole zu stehen und auf Lilla zu warten. Meistens freitagabends, manchmal aber auch erst am Samstagnachmittag. Sie arbeitete in Torkildsens Modegeschäft und bekam dort Rabatt, so dass ich immer gespannt war, ob sie etwas Neues trug. Ein Kostüm, ein Kleid, eine neue Hose oder irgendetwas anderes Schönes. Als Kind war ich mir vollkommen sicher, dass niemand so moderne Sachen trug wie Lilla. Ich bewunderte sie. Sie sah immer aus wie eines der Modelle in den Modezeitschriften. Und sie roch so wunderbar, trug immer Parfüm mit seltsamen Namen:Red Door,Rive gauche,Anaïs Anaïs. Am besten gefiel mir aberCharlie. Auf der Flasche war ein Bild von einer Frau mit langen, blonden Haaren, die mit nackten Füßen bei Sonnenuntergang an einem Strand entlanglief. Sanfte Wellen rollten hinter ihr an Land. Sie trug einen kreideweißen Hosenanzug, und auch ihre Zähne waren blendend weiß. Schräg über ihre Beine stand geschrieben: »Gives you the time of your life!«
Schon wenn Lilla mir noch weit draußen auf dem Wasser von der Fähre aus zuwinkte, wusste ich, wie ihre Laune war. Manchmal wirkte sie abwesend, dann redete sie kaum, wenn wir nach Hause gingen, und zog sich später gleich in ihr Zimmer zurück. Wenn sie sich aber wirklich darüber zu freuen schien, mich zu sehen, lackierte sie mir die Nägel, machte mir die Haare und schminkte mich. Dann durfte ich auch in ihr Zimmer und auf ihrem Bett sitzen. Wenn sie dann fertig war und mich ansah, sagte sie oft: Du bist das hübscheste Mädchen, das ich kenne. Manchmal streichelte sie mir auch über die Wange. Dann kribbelte es in meinem Bauch, denn sie, die so elegant und schön war und nachCharlie roch, musste es ja wissen.
Manchmal bauten Lilla und ich im Winter im Garten Schneelichter. Wir formten Schneebälle, die wir zu hohen Ringen auftürmten, und platzierten eine Kerze in der Mitte. Einmal haben wir fünfzehn solcher Lampen gemacht, der ganze Garten war erleuchtet. Ich weiß noch, wie Großmutter gelacht hat, als sie über den von Großvater geräumten Weg zum Nebengebäude ging, in dem sie ihr Atelier hatte. Sie sagte, es sehe aus wie in einer katholischen Kirche.
Auf der Insel schneite es nur selten richtig viel, der Schnee reichte nie, um Höhlen oder Iglus zu bauen. Dafür war das Klima viel zu mild und wechselhaft. Aber einmal – mein Großvater meinte, das sei der schneereichste Winter seit Menschengedenken gewesen – hatte Lilla plötzlich die Idee, vom Balkon im ersten Stock in den Schnee zu springen. Wir schaufelten einen großen Haufen Schnee zusammen, bis er so hoch war, dass wir darin landen konnten. Ich kletterte aufs Geländer, hielt mich am Pfosten fest und sah nach unten. Lilla stellte sich neben mich.
»Du schaffst das«, sagte sie.
»Ich trau mich nicht«, erwiderte ich, und sie nahm meine Hand.
»Doch, das tust du. Wir werden wi