: Silvia Moreno-Garcia
: Die Tochter des Doktor Moreau Roman
: Limes
: 9783641304713
: 1
: CHF 4.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 448
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dieser Dschungel verbirgt die dunkelsten Geheimnisse: Nach »Der mexikanische Fluch« der neue Bestseller von Silvia Moreno-Garcia!

Mexiko, Ende des 19. Jahrhunderts: Carlota Moreau wächst fern von der zivilisierten Welt im Dschungel der Halbinsel Yucatán auf. Sie ist die Tochter eines begabten Wissenschaftlers, der auf seinem Anwesen geheime Experimente durchführt. Als Eduardo Lizalde, der Sohn von Doktor Moreaus Geldgeber, eintrifft und Carlota den Hof macht, scheint ihr Weg in die feine Gesellschaft vorgezeichnet. Doch die dunklen Labore verbergen unzählige Geheimnisse – und das gefährlichste von ihnen ist Carlota selbst.

Nominiert als bester Roman für den Hugo Award 2023!


Von Silvia Moreno-Garcia bereits erschienen:
Der mexikanische Fluch
Die Tochter des Doktor Moreau

Die in Mexiko geborene Kanadierin Silvia Moreno-Garcia ist als höchst vielseitige Autorin bekannt. Mit jedem ihrer Romane, darunter der Überraschungsbestseller »Mexican Gothic« (zu Deutsch »Der mexikanische Fluch«), erfindet sich Moreno-Garcia neu und meistert alle Genres – darunter den Schauerroman, den Noir-Krimi und die Science-Fiction sowie die Fantasy. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem World Fantasy Award, dem Sunburst Award, dem Locus Award und dem British Fantasy Award. Sie lebt in Vancouver, British Columbia, und schreibt als Kolumnistin für dieWashington Post.

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Carlota


An diesem Tag würden sie eintreffen, die beiden Herren, deren Boot soeben durch den Mangrovenwald glitt. Der Dschungel war voller Geräusche. Vögel schrien volltönend ihr Unbehagen hinaus, als könnten sie das Herannahen fremder Eindringlinge vorhersehen. In ihren Hütten hinter dem Haupthaus fanden die Hybriden keine Ruhe. Selbst der alte Esel, der sich an seinem Mais gütlich tat, machte einen gereizten Eindruck.

Carlota hatte in der vergangenen Nacht viel Zeit damit zugebracht, eingehend die Zimmerdecke zu betrachten, und am Morgen tat ihr der Bauch weh, wie immer, wenn sie nervös war. Ramona hatte ihr einen Bitterorangentee aufbrühen müssen. Carlota gefiel es gar nicht, wenn die Nerven ihr Streiche spielten, aber Dr. Moreau bekam eben selten Besuch. Die Isolation, so sagte ihr Vater, tue ihr gut. Als kleines Kind war sie krank gewesen, und Ruhe und Gelassenheit waren wichtig für sie. Außerdem waren die Hybriden angemessenem gesellschaftlichem Umgang im Wege. Wenn überhaupt mal jemand Yaxaktun besuchte, dann waren es entweder Francisco Ritter, der Anwalt und Korrespondent ihres Vaters, oder Hernando Lizalde.

Herr Lizalde kam immer allein. Carlota war ihm nie vorgestellt worden. Zweimal hatte sie ihn aus einiger Entfernung mit ihrem Vater außerhalb des Hauses herumgehen sehen. Jedes Mal war er rasch wieder verschwunden, er hatte noch nicht eine Nacht in einem der Gästezimmer verbracht. So oder so war er kein häufiger Gast. Seine Anwesenheit schlug sich überwiegend in Briefen nieder, die alle paar Monate eintrafen.

Und nun kam Herr Lizalde, sonst nur eine ferne Präsenz, ein Name, ausgesprochen, doch nie wirklich manifestiert, zu Besuch – und nicht nur das, er brachte auch den neuenmayordomo mit. Seit Melquíades sie vor beinahe einem Jahr verlassen hatte, hatte der Doktor allein die Zügel von Yaxaktun in der Hand gehalten, eine unbefriedigende Situation, da er den größten Teil seiner Zeit im Labor verbrachte oder tief in seinen Überlegungen versunken war. Dennoch schien ihr Vater nicht geneigt gewesen, einen neuen Verwalter zu suchen.

»Der Doktor ist zu wählerisch«, sagte Ramona, während sie die Knoten und Verfilzungen aus Carlotas Haar bürstete. »Herr Lizalde, er schickt Briefe und schreibt, hier wäre dieser Mann, dort ein anderer. Aber Ihr Vater sagt immer: ›Nein, dieser ist nicht geeignet und jener auch nicht.‹ Als kämen so viele Menschen hierher.«

»Warum wollen die Leute nicht nach Yaxaktun kommen?«, fragte Carlota.

»Es ist weit von der Hauptstadt entfernt. Und Sie wissen ja, was die Leute sagen. Sie alle klagen, es läge zu nah am Rebellengebiet. Sie denken, es ist das Ende der Welt.«

»So abgelegen ist es nicht«, widersprach Carlota, auch wenn ihre Vorstellung von der Halbinsel ausschließlich auf Karten in Büchern beruhte, in denen Entfernungen zu ebenmäßigen schwarz-weißen Linien wurden.

»Es ist enorm abgelegen. So sehr, dass Menschen, die an Pflasterstraßen und die tägliche Zeitung am Morgen gewöhnt sind, lieber zweimal nachdenken, ehe sie herkommen.«

»Warum bist du dann hier?«

»Meine Familie, sie haben einen Ehemann für mich ausgesucht, aber er hat nichts getaugt. Faul, hat den ganzen Tag nicht gearbeitet, und am Abend hat er mich geschlagen. Lange Zeit habe ich mich nicht beklagt, aber dan