Kapitel 1
Retten Sie Ihr Gehirn
Endlos haben Sie diesem Tag entgegengefiebert. Sie haben sich jeden Tourenführer zu Ihrem Vorhaben angesehen, jede Geschichte gelesen, alles verfügbare Wissen zusammengetragen und sich alle in den sozialen Medien geposteten Videos von den Reisen anderer angesehen. Sie haben sich das alles zu Gemüte geführt und dabei immer gewusst, dass auch für Sie der Tag kommen würde, raus an die frische Luft zu gehen, in die Natur einzutauchen und sich auf Ihre erträumte Wanderschaft zu machen. Jetzt brauchen Sie nur noch Ihren Rucksack mit allem zu beladen, was man für eine solche Unternehmung braucht.
Karte und Kompass? Rein damit und abhaken.
Wasser? Rein damit und abhaken.
Eiweißriegel? Rein damit und abhaken.
Hut, Handy, Sonnenbrille, Ausweis, Erste-Hilfe-Set, Wechselkleidung, ein bisschen Geld für den Notfall, Wagenschlüssel, Hausschlüssel – alles hat seinen Platz in Ihrem Wanderrucksack.
Sie wissen, dass das Ganze nicht unbedingt ein Kinderspiel sein wird. Es hat lange nicht geregnet, und möglicherweise gibt es keinen Wassernachschub. Es wird Steilstellen geben und vielleicht haarige Übertritte. Man hört ja immer wieder von Leuten, die sich da oben verletzen oder noch Schlimmeres erleben. Natürlich haben Sie auch von dem Wanderer gelesen, der nicht mehr zurückkehrte. Aber Sie trauen sich zu, dass Sie alles bewältigen und heil zurückkehren werden. Sie haben sich vorbereitet, und die Ausblicke, die Sie da oben erwarten, sind der Mühe wert. Jedenfalls sind Sie jetzt bereit für die Wanderung, von der Sie immer schon geträumt haben.
Und schon geht es los. Dürres Geäst knackt unter den Schuhen, als Sie Ihre ersten Schritte tun. Während Sie zum ersten Mal tief durchatmen, steigt Ihnen der Duft von Moos in die Nase, und die Vögel pfeifen munter zur Begrüßung. Staunend und wie entrückt stehen Sie da, es ist alles so, wie Sie es sich vorgestellt hatten. Die Nervosität mit ihrem Adrenalin schlägt um in frohe Erwartung.
Sie sind so sehr darauf aus, Höhe zu gewinnen, dass Sie nirgendwo haltmachen. Sie setzen stetig einen Fuß vor den anderen, bewältigen sukzessive die kleinen Schwierigkeiten und freuen sich über das Gefühl, zu so etwas durchaus in der Lage zu sein. Es stimmt Sie nicht bedenklich, dass es allmählich richtig warm wird, die erhitzten Wangen bereiten Ihnen keine Sorgen, ebenso wenig wie Ihr Keuchen, schließlich wissen Sie ja, dass Sie bald zu einem geeigneten Pausenplatz kommen, an dem Sie Ihrem Proviant zusprechen können.
Schließlich erreichen Sie eine kleine ebene Stelle. Hier stehen die Bäume nicht so dicht, und entsprechend weit voneinander entfernt sind die Wegmarkierungen. Deshalb halten Sie kurz an, um sich anhand der Wanderkarte zu orientieren. Zu dumm nur, dass in der Fronttasche Ihres Rucksacks, in die Sie ganz sicher Karte und Kompass gesteckt haben, nur eine alte Reinigungsquittung ist. Karte und Kompass müssen herausgefallen sein. »Nun gut«, sagen Sie sich, »wenn ich weiter aufwärts- gehe, muss ich den Aussichtspunkt ja irgendwann erreichen.«
Aber ein paar hundert Meter weiter kennen Sie sich wirklich nicht mehr aus. Sie haben sich verlaufen, es lässt sich nicht mehr leugnen. Sie suchen ein Plätzchen, wo Sie nach stundenlangem zielstrebigem Aufstieg zu dem schönen Aussichtspunkt, den Sie auf so vielen Bildern gesehen haben, wenigstens Ihren Durst löschen können. Sie spüren auch, dass es inzwischen richtig heiß geworden ist. Unten auf dem Parkplatz hatte das Thermometer im Wagen 32 Grad angezeigt. Sie wissen, dass es inzwischen heißer sein muss, selbst in dieser Höhe. Sie tasten nach der Seitentasche des Rucksacks, aber Ihre Finger finden da keine Wasserflasche. Da sinkt Ihnen das Herz in die Hose. Statt der Wasserflasche finden Sie nur ein altes Kaugummipapier. Sie drehen den Rucksack um und sehen nach, ob die Flasche vielleicht einfach anderswo ist, aber sie ist schlichtweg nicht da. Panik steigt in Ihnen auf, und Sie versuchen, sich mit hoffnungsvollen Gedanken zu beruhigen.
»Es wird schon gehen«, sagen Sie sich, obwohl die Muskeln schon ein bisschen zucken. Immerhin haben Sie ja noch Ihre Snacks, doch als Sie den Reißverschluss aufziehen, sehen Sie auch dahinter nichts Essbares. Die Eiweißriegel sind einfach nicht da. Sie finden nur eine Büroklammer.
Jetzt denken Sie, dass Sie ja zumindest noch den schattenspendenden Hut haben und einfach mit dem Handy Hilfe rufen werden. Doch nach beidem such