1.2Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis
Wie im vorangegangenen Kapitel bereits anklang, wird das Verhältnis von Theorie und Praxis in der AngewandtenEthik sehr unterschiedlich beurteilt. Die meisten wissenschaftlichen Beiträge von Philosophen beschäftigen sich mit abstrakten ethischen Konzepten und theoretischen Überlegungen, die sie im Sinne desTop down-Modells für die Orientierung in der Praxis fruchtbar machen wollen.Bottom up-Modelle hingegen bekamen Ende des 20. Jahrhunderts Auftrieb durch die Renaissance der Kasuistik in der Medizinethik, ausgelöst durch die AbhandlungThe Abuse of Casuistry: A history of moral reasoning (1988) der beiden Philosophen AlbertJonsen und Stephen Toulmin. Bei derKasuistik, abgeleitet von lateinisch „casus“: „Fall, Vorkommen“ steht die Einzelfallbetrachtung im Zentrum. Die in der Biomedizin angewandte reine Kasuistik versucht, durch eine sorgfältige Beschreibung konkreter Probleme oder zusätzlich noch durch Vergleiche und Analogien mit ähnlichen Fällen oder Präzedenzfällen zu moralischen Entscheidungen zu gelangen (vgl.Stoecker u. a., 8;Schöne-Seifert, 25). Bei ihrer Tätigkeit in Ethikkommissionen machten Jonsen und Toulmin die Erfahrung, dass sich ein Konsens in moralischen Konfliktfällen wie z. B. über einen konkreten Schwangerschaftsabbruch niemals auf der Ebene abstrakter Prinzipien wie „Recht aufLeben“ des Embryos und „Recht aufSelbstbestimmung“ der Frau herstellen lasse (Jonsen u. a., 5). Einigkeit finde man immer nur „in einer geteilten Wahrnehmung dessen, was in ganz bestimmten menschlichen Situationen spezifisch auf dem Spiel steht“ (ebd., 18). Es gehe darum, in der jeweiligen konkreten Situation ein gerechtes Glei