1.Kapitel
JULI
Du bist ein Puzzle, dessen Teile noch nie jemand zusammensetzen konnte. Nicht einmal du selbst.
Das hat meine Mutter immer zu mir gesagt. Sie hat es lieb gemeint, aber dieser Gedanke hat mich nie ganz losgelassen. Werde ich jemals ein vollständiges Puzzle sein, wenn ich nicht einmal weiß, woher ich komme? Und stehe ich nun hier, weil ich nicht länger ein unvollendetes Puzzle sein will?
Am liebsten hätte ich diese Fragen mit einer schnellen Handbewegung verscheucht wie lästige Fliegen. Aber ich lasse es bleiben. Ich verharre schon viel zu lange an der gleichen Stelle, den Kopf in den Nacken gelegt und den Blick auf die Fassade des Gebäudes vor mir gerichtet. Ich muss den Passanten, die an mir vorbeikommen, nicht einen weiteren Grund geben, mich für seltsam zu halten.
Außerdem bin ich nicht hier, um mich zuvervollständigen. Ich bin hier, weil ich Geld brauche. Und ich bin hier, weil ich verzweifelt genug bin, umihn nach Geld zu fragen. Das ist der einzige Grund.
Als heute Morgen ein Gerichtsvollzieher vor unserer Tür stand und unseren Strom abgedreht hat, wusste ich, dass ich keine andere Wahl mehr habe. Wenn meine Mitbewohner und ich unsere Wohnung nicht verlieren wollen, müssen wir endlich unsere Rechnungen begleichen. Und keiner von ihnen ist in der Lage, einfach mal tausend Euro zu beschaffen. Ich schon.
Meine Haare sind nass, weil ich sie mir heute nicht mal föhnen konnte. Mein Handy hat nur noch zwanzig Prozent Akku. Und mein Körper operiert inzwischen vermutlich mit noch weniger.
Ich hätte schon vor einem Monat auf seine Mails reagieren sollen. Aber ich war noch nicht bereit, mir einzugestehen, wie misslich meine Lage ist. Wenn die Gefriertruhe abzutauen beginnt, man sich keinen Kaffee mehr kochen kann und nur noch kaltes Wasser aus dem Hahn kommt, kann man sich nicht länger vor den hässlichen Wahrheiten verstecken.
Ich habe es also eingesehen. Und wie heißt es so schön? Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung. Aber dieser erste Schritt wird mir nicht helfen, wenn ich nicht in der Lage bin, auch einen in das Gebäude vor mir zu setzen.
Kaufhaus Kronenberger steht mit geschwungenen goldenen Buchstaben mehrere Meter über meinem Kopf. Obwohl ich nicht weit weg wohne, war ich noch nie hier. Ich habe dieses altehrwürdige und doch frisch verputzte Gebäude gemieden, als könnte es mich verschlingen, wenn ich mich in seine Nähe wagen würde. Auf den ersten Blick mögen die helle Fassade mit dem hübschen Stuck und die hohen Schaufenster mit den Puppen in schicken Kleidern nicht einschüchternd wirken. Doch für mich ist es der Stoff, aus dem meine Albträume gewebt sind.<