Die deutsche Küste und der Norden haben so einiges zu bieten: frische Luft, tolle Landschaft, wortkarge Mitmenschen - und den ein oder anderen Mörder! Während die Sonne scheint und die Wellen glitzernd an den Strand spülen, stehen unsere Ermittler vor einer Herausforderung. In 21 Kurzkrimis untersuchen sie die Fälle, die alle nur eins gemeinsam haben: den Tatort ...Mit Kurzkrimis von Gesine Berg, Ulrike Bliefert, Carola Christiansen, Anja Gust, Jutta Götze, Kathrin Hanke, Franziska Henze, Eva Jensen, Anke Küpper, Angela Lautenschläger, Alexa Linell, Anja Marschall, Bettina Mittelacher, Ricarda Oertel, Alex Roller, Regina Schleheck, Bea Schreiner, Regine Seemann, Carolyn Srugies, Sabine Weiß und Fenna Williams
Kathrin Hanke
Röbel an der Müritz, Mecklenburg-Vorpommern
Sie stellte das Fahrrad in dem kleinen Hofgarten, der zu ihrem Ferienapartment gehörte, ab und setzte sich auf einen der beiden Holzstühle an dem dazu passenden Klapptisch. Gleich darauf zog sie die Trinkflasche aus ihrem Rucksack, schüttelte sie und lauschte. Die Flasche war leer. Ihr Blick fiel auf das halb volle Wasserglas, das noch vom frühen Morgen auf dem Tischchen stand. Innerlich mit den Schultern zuckend, griff sie es, führte es an den Mund und trank. Das Wasser schmeckte wie erwartet etwas schal, tat aber ihrer trockenen Kehle gut. Bevor sie gleich in ihr Apartment gehen würde, wollte sie noch einen Moment in der Sonne ausruhen.
Sie war das Radfahren nicht mehr gewohnt. In Hamburg ging sie im Alltag entweder zu Fuß, nutzte öffentliche Verkehrsmittel oder für weitere Strecken ihren Wagen, und in ihrer Freizeit hatten Fahrradausflüge bislang auch nicht auf dem Aktivitätenplan gestanden. Darüber hinaus war das Rad, das sie eben für ihre erste Tour durch die historische Altstadt von Röbel bis hin nach Fincken und wieder zurückgebracht hatte, mit seinen mindestens fünfunddreißig Jahren auf dem Buckel schwer zu treten. Fincken lag nicht weit entfernt, nur knapp fünfzehn Kilometer, was früher ein Klacks für sie gewesen war. Aber heutzutage eben nicht mehr. Immerhin hatte das Rad eine funktionierende Drei-Gang-Schaltung, das war es dann aber auch schon. Und genau dies alles fand sie gut, denn die körperliche Anstrengung bei gleichzeitiger eintöniger Beinbewegung zog ihre gesamte Konzentration auf sich und brachte ihr Gedankenkarussell wenigstens für eine Weile zum Stillstand. Hätte sie das auch nur im Entferntesten geahnt, hätte sie sich schon längst in körperliche Aktivitäten gestürzt und nicht versucht, ihren Geist durch allerlei kulturellen Input abzulenken und mit chemischen Keulen ruhigzustellen. Sie lehnte ihren Kopf zurück, schloss die Augen und ließ sich von der Sonne bestrahlen, die sie in eine warme Decke zu hüllen schien. Wie schön und einfach das Leben doch sein konnte.
Das Wohlbehagen hielt nicht lange vor. Nach und nach floh die neu und als angenehm empfundene Anstrengung aus ihrem Körper und machte den gewohnten, miteinander ringenden Gedanken Platz. Dennoch schlug sie die Augen nicht auf und rappelte sich aus dem Stuhl hoch. Wozu auch? Natürlich, sie befand sich auf der Flucht. Vor sich selbst. Vor der Person, zu der sie geworden war – skrupellos und selbstherrlich. Andere sagten von ihr, sie würde über Leichen gehen und wussten nicht, wie recht sie damit hatten. Sie wollte wieder zurück zu ihrem eigentlichen Ich finden, zu dem Menschen, der sie einmal gewesen war. Das ging aber nicht überstürzt. Das ging nur planvoll und verlangte Zeit. Deswegen konnte sie ruhig noch ein bisschen in der Mittagssonne verweilen, die paar Minuten mehr waren nicht entscheidend.
Lange Zeit hatte sie es mit sich ausgehalten, indem sie sich einfach ein neues Leben mit einer makellosen Identität aufgebaut und diese als ihre eigene und einzig wahre zur Schau gestellt hatte. So gut war sie gewesen, dass sie sich selbst geglaubt hatte. Dies war nun vorbei. Ihre fugenfreie Fassade hatte einen deutlichen Riss bekommen, und ohne Unterlass sickerte seitdem all das wieder an die Oberfläche, was sie über Jahrzehnte erfolgreich unterdrückt hatte. Der Riss war von einer auf die andere Sekunde entstanden. Ohn