LEKTION 2: Besser reden – ein methodischer Leitfaden
Um ein Gefühl für gute Rhetorik zu entwickeln und um sich rhetorisch zu verbessern, braucht es Zeit. Schneller Erfolg, wie er heute häufig in Aussicht gestellt wird, war zwar auch in der Antike wünschenswert: So hatte Cicero seinen steilen politischen Aufstieg vor allem seiner beeindruckenden Redekunst zu verdanken. In seinen theoretischen Schriften allerdings verstand er die Arbeit an der Rhetorik als Lebensaufgabe. Zeitlebens suchte er das Ideal, ja die platonische Idee des »vollkommenen Redners«, desperfectus orator. So schrieb er am Beginn desOrator:
Beim Entwurf des vollkommenen Redners werde ich einen Redner beschreiben, wie es ihn wohl niemals gegeben hat. Ich frage nämlich nicht, wer ein solcher Redner war, sondern was das unübertreffliche Ideal ist, das im ganzen Zusammenhang der Rede zwar sehr selten oder möglicherweise noch nie sichtbar geworden ist, wohl aber schon in einem Teilbereich, und zwar bei den einen deutlicher, bei den anderen vielleicht etwas spärlicher. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass es auf keinem Gebiet ein so vollkommen schönes Ding geben kann, dass nicht die ursprüngliche Idee noch schöner wäre, der es wie der Abdruck eines Gesichts nachgebildet ist. Sie lässt sich nicht mit Augen, Ohren oder sonst einem Sinn erfassen, doch im Denken und in der Vorstellung können wir sie begreifen. (Orator 7–8)
Darüber, wie man diesem rhetorischen Idealbild am nächsten kommen könne, herrschte allerdings nicht einmal in der Familie Tullius Cicero Einigkeit. Wenn man den einleitenden Bemerkungen zuDe oratore Glauben schenkt, so hat es zwischen Marcus und seinem Bruder Quintus einen innerfamiliären Disput darüber gegeben, was nötig sei, um ein guter Redner zu werden – ein Thema, das heutzutage wohl nur noch selten im Familienkreis diskutiert wird:
In unseren Unterhaltungen bist du in dieser Sache immer wieder anderer Auffassung als ich: Während ich auf dem Standpunkt stehe, dass Redekunst höchste fachwissenschaftliche Bildung zur Grundlage habe, vertrittst du die Meinung, Redekunst sei von allzu gründlicher Theorie freizuhalten und von Begabung und praktischer Anwendung abhängig. (De oratore 1,5)
Im Zitat sind zwei Auffassungen kontrastiert: Quintus erachtet Talent (ingenium) und praktische Übung (exercitatio) als hinreichend für den rhetorischen Erfolg, Marcus betont die Wichtigkeit von Theorie (doctrina) und umfassende