Kapitel 1
PARADOXIEN DER FREIHEIT:
VON OST NACH WEST
Hineingeboren in eine Familie im Osten Deutschlands, die den Horror der Bombennächte und der Evakuierung überlebt hatte, ist die Erinnerung an die frühe Kindheit in der Nachkriegszeit von Aufbruch und Zuversicht, aber auch von Hungerbildern geprägt. Jahrzehnte später fand ich im Nachlass meiner Mutter einen Text mit dem Titel »Hunger«. Er handelte von halb erfrorenen Händen, die vereiste Kartoffeln rieben, und von gekochten Kartoffelschalen, die ich gierig verschlang.
Die Mutter hatte ihre Kinder aus dem zerstörten Haus in der brennenden Altstadt Dresdens in ein erzgebirgisches Dorf hinübergerettet. Ein Zuhause gab es nicht mehr, wir waren ausgebombt.
Der Vater hatte sich nach der Kapitulation der deutschen Armeen der Gefangennahme durch die sowjetische Besatzungsmacht entzogen und war geflohen, hatte sich wochenlang in der Nähe unseres Evakuierungsortes im Wald versteckt und wurde dort von Einheimischen versorgt.
Der Krieg war zu Ende, und irgendwann bekam die Familie mit sechs Kindern ein Haus in Dresden zugewiesen. Die sowjetische Militäradministration und die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) teilten damals die Bevölkerung in den ihr wohlgesinnten und den feindlichen Teil ein. Die ihr wohlgesinnten Gruppen wurden im ParteijargonArbeiter der Faust undArbeiter der Stirn genannt.Arbeiter der Stirn, dazu gehörten meine Mutter und ihr Freundeskreis. Leuten wie diesen gab die Partei Wohnungen, Häuser, zusätzliche Lebensmittelmarken und Erholungsurlaube. Im Gegenzug erwartete sie Loyalität.
Würde man die Stimmung in der Stadt beschreiben wollen, so müsste man sie als Erwartungshaltung beschreiben, gepaart mit dem Willen zum Aufbruch. Nach dem Terrorregime der Nationalsozialisten und der grauenvollen letzten Kriegsphase begann nun etwas Neues. Jeder und jede sollte nach dem Ende der großen Zerstörung am Aufbau einer antifaschistischen Gesellschaft mitwirken. Viel war die Rede von der antifaschistischen Demokratie – und die wollten fast alle. Die Vertreter der sowjetischen Militäradministration und die unter ihrem Kommando stehenden kommunistischen Parteiführer, aus dem sowjetischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt, verkündeten, dass nun einedemokratische Republik auf der Basis einer antifaschistischen Gesellschaft aufgebaut werde.
Von Demokratie in der Nachkriegszeit in Deutschland zu sprechen – ganz gleich, ob in Ost oder West – erscheint dennoch irgendwie bizarr. Wie sollten denn, nach einem jahrzehntelangen Autoritarismus im Kaiserreich, einer nur von einer Minderheit unterstützten schwächlichen Demokratie in der Weimarer Republik, dem duldend hingenommenen Terrorregime