Heilige Streiche
Über das, was damals geschah, ist viel gesagt und gerätselt worden. Noch heute, über vierzig Jahre später, berichten all jene, die diesen wunderlichen Tag selbst erlebt haben, mit einer Mischung aus Verwirrung und Verzückung. Was sich an jenem Heiligabend in unserem Dorf wirklich zugetragen hat, wie es zu diesem Weihnachtsmirakel kam, hat nie jemand herausgefunden. Kein Mensch kennt die Wahrheit.
Außer mir.
All die Jahre habe ich geschwiegen, heute will ich die ganze Geschichte erzählen.
Ich war elf und das einzige Kind einer Wirtsfamilie. Wir lebten in Müntschisberg, einem pittoresken Dorf in den Voralpen, mit viel Wald, einem hübschen kleinen See, Fachwerkhäusern und gut tausend Einwohnern.
Meine Eltern führten den »Tapferen Gaul«, eine Gastwirtschaft gegenüber der Kirche, direkt am kopfsteingepflasterten Dorfplatz, mit einem separaten Raum für Familienfeste, Vereinsanlässe und Leichenschmause sowie einer Kegelbahn im Keller, die von angeheiterten Feiernden wie weinseligen Trauernden gleichermaßen gern benutzt wurde.
Im ersten Stock boten wir ein paar Gästezimmer an, wenngleich es so gut wie nie vorkam, dass Fremde in unserem Dorf übernachteten. Was insbesondere daran lag, dass unser Dorf einen furchtbar schlechten Ruf hatte.
In Müntschisberg herrschten seit Jahren Zoff, Hader und Hickhack. Wir lebten in einer heillos zerstrittenen Gemeinde. Alle hatten miteinander Krach. Es wurde gezankt, gelästert, betrogen und gelogen. Schadenfreude, Hinterlist und Intrigen prägten den Dorfgeist. Wir fügten einander Spitzbübereien zu, plagten uns gegenseitig mit niederträchtigen Scherzen, und jede spielte jedem boshafte Streiche.
Wann und warum es losgegangen war – das wusste schon lange niemand mehr. Es hatte wohl einst mit normalen kleinen Gehässigkeiten im Alltag begonnen, wie sie in jedem Dorf vorkommen können, mit dem Unterschied, dass in Müntschisberg die Sache eskalierte und immer ätzender geworden war. Die Stimmung im Ort war total vergiftet.
Oft fand man gar nicht heraus, wer einem eine Gemeinheit angetan hatte. Eine mindestens ebenso hundsgemeine Revanche war deshalb nicht möglich. Was also tun mit dem aufgestauten Frust? Man rächte sich halt einfach an der nächstbesten Person, selbst wenn die mit der Sache gar nichts zu tun hatte. Und diese wiederum ließ ihren Ärger am nächsten Unbeteiligten aus. So wurde jedes Opfer auch zum Täter – ein einziger perfider Kreislauf.
Nun verhielt es sich aber so, dass wir Müntschisberger bei unseren fiesen Feldzügen einen erstaunlichen Ideenreichtum entwickelten. Plumpe Gemeinheiten – sich beispielsweise die Autos zu zerkratzen, das Gartenbeet zu zertrampeln oder Briefkästen mit Hundekot zu füllen – waren verpönt, weil zu abgedroschen. So etwas hatte einfach keine Klasse. Es mussten schon richtig schöne Schurkereien sein, ideenreich ausgeklügelt, raffiniert in die maliziöse Tat umgesetzt. Oh ja, wir pflegten eine Kultur der kreativen Boshaftigkeit.
Bauer Notter etwa düngte seine Wiesen immer dann mit Gülle, wenn die Hausfrauen ihre Wäsche im Freien zum Trocknen aufgehängt hatten. Straßenwärter Werder spritzte bei Schnee und Minusgraden – wenn er frühmorgens die Straßen freiräumte und mit Streusalz eindeckte – schon mal heimlich ein paar Liter Wasser in die Hauseinfahrten (glatt war’s für alle, sauglatt fand es nur der Werder). Und irgendein ganz besonders gerissener Grüsel steckte in die stierkopfgroßen Blumentöpfe vor Andermatts Usego-Laden Fischölkapseln, die sich beim Gießen langsam auflösten und wochenlang den bestialischen Gestank nach faulem Fisch verbreiteten. Metzgersfrau Müller fütterte die Katze von Handarbeitslehrerin Bächler mit Würsten, die sie zuvor mit den Borsten eines Strohbesens gespickt hatte, und das Fräulein Handarbeitslehrerin wiederum ließ ihren Ärger über das verstörte, kotzende Büsi an Gemeindeschreiber Nietlispach aus, indem sie dem stolzen Junggesellen (er hatte sie binnen dreier Jahre vier Mal abblitzen lassen) vom Versandhaus Jelmoli dreißig Büstenhalter samt Spitzenhöschen a