•KAPITEL1 •
from east flatbush to midwood
Lustlos blätterte ich in meinem ExemplarEinführung in die Mengenlehre herum und blickte auf die Wanduhr. Der rote Sekundenzeiger tickte und tickte, aber er bewegte sich nicht. Vielleicht war er kaputt. Es konnte unmöglich immer noch zehn nach acht sein.
Professor Wahlberg zeichnete den axiomatischen Beweis, den wir bereits in der letzten Stunde kennengelernt hatten, an die Tafel, und alle zwölf Studierende der Abendschule lauschten aufmerksam seinen Worten. Nun, alle außer mir. Ich unterdrückte ein Gähnen und wandte mich wieder der verzauberten Wanduhr zu.
Die Arbeit in der PrivatdetekteiGoldbloom&Son hatte mich geschafft. Dabei musste ich nicht viel mehr machen, als Akten zu sortieren und unsere Klientel mit Kaffee zu versorgen. Vermutlich war es die Eintönigkeit, die mir meine Energie raubte.
Oder der Gedanke, am Montag wieder dort aufzutauchen, nachdem ich heute ein ganzes Tablett mit Kaffee und Plätzchen auf einen Auftraggeber geworfen hatte. Das war nicht absichtlich geschehen. Wieder einmal hatte ich mir selbst mit meinen zwei linken Füßen im Weg gestanden.
Eigentlich gab ich mir Mühe, Mr Goldbloom keine Probleme zu bereiten und ihn in allem zu unterstützen, aber als Sekretärin eignete ich mich einfach nicht. Ich hasste es, Menschen zu empfangen und so lange Nettigkeiten mit ihnen auszutauschen, bis sie an der Reihe waren, dem Privatdetektiv ihr Leid zu klagen und ihr Anliegen zu unterbreiten. Trotzdem bemühte ich mich, da ich den Job behalten wollte, um die Miete zahlen zu können. Deshalb fühlte ich mich miserabel, dass mir ein Missgeschick wie dieses passiert war.
Viertel nach acht.
Wahrscheinlich sollte ich erleichtert sein, dass ich nicht rundheraus gefeuert worden war. Dafür wäre allerdings am Montag auch noch Zeit, nachdem Mr Goldbloom reichlich Gelegenheit gehabt hätte, sich die Situation während des Wochenendes wieder und wieder vor Augen zu führen.
Ich raufte mir die Haare.
Zwanzig nach acht.
Am besten, ich dachte nicht mehr darüber nach. Letztlich würde ich nichts an seiner Entscheidung ändern können. Ich hatte mich mehrmals entschuldigt und konnte nur hoffen, dass er zumindest mein Talent beim Verschriftlichen der Briefe zu schätzen wusste.
Seufzend versuchte ich, mich wieder auf den Unterricht zu konzentrieren. Vergeblich.
Ich studierte gern Mathematik, aber es ermüdete mich. Vor allem die Tatsache, den anderen dabei zuzuhören, wie sie nacheinander den gleichen Beweis erklärten, den ich am Nachmittag vorher bearbeitet hatte. Es brachte mich nicht weiter, die Lösung aus ihren Mündern zu hören, wenn ich doch selbst längst darauf gekommen war. Gott sei Dank hatte ich bei Wahlberg nur einen Kurs am Freitagabend und musste mich nicht öfter durch seine langweilige Lehrstunde quälen. Für die anderen Fächer konnte ich mehr Begeisterung aufbringen …
Fünf vor halb neun.
Leise packte ich Buch und Heft in meinen Rucksack und schlich mich geduckt aus dem müffelnden Raum. Wie auch im restlichen Betonklotz gab es hier Schimmel und Nester aus längst vergessenem Müll hinter quietschenden Türen. Dreckverkrustete Fenster und flackernde Neonröhren gehörten genauso zum alten Gebäude wie farbverschmierte Wände und Konzertposter aus dem vorletzten Jahrzehnt. Für ein mittelmäßiges College in New York mit Gebühren, die einen nicht in den Ruin trieben, ganz normal.
Ich nahm mir vor, auf dem Weg nach Hause ein paar Einkäufe zu erledigen. Glücklicherweise befand sich das College ebenso wie meine Wohnung in Brooklyn, sodass ich nur wenige Stationen mit der Metro fahren musste. Von East Flatbush bis nach Midwood brauchte man um diese Uhrzeit nur eine halbe Stunde, und schräg gegenüber vo