Kapitel 1
Garantiert ein Dutzend Nyx lungert auf derExposition Universelle herum, doch keiner von ihnen erkennt mich. Denn eingeschnürt in die lindgrüne Seidenrobe, mit dem pompösen Hut samt weißer Spitze über den Augen und der Haltung einer reichen Mademoiselle spiele ich wie üblich eine Rolle. Eugène weiß, dass diese Fassade die Nachtschwärmerin in mir verbirgt. Was er nicht weiß – ich verberge dahinter auch diewahre Odette aus demProlétariat. Seit unserem Kennenlernen.
»Glaubst du, das ist einer von ihnen?« Eugène deutet mit dem Gehstock nach vorn und sieht aus wie jeder andere schaulustige Monsieur. Eine Massenproduktion in gediegenen, langweiligen Fracks, die das Schauspiel unter der Pavillonkonstruktion aus Glas und Metall beobachten.
»Wäre möglich«, murmle ich, auf meine Seidenschläppchen starrend. Was würde ich nur für Stiefel geben.
»Du hast ihn nicht einmal angeschaut.«
Ich atme tief ein und zwinge meinen Blick hoch zur Bühne.
ZuSirènes.
Wie ein ölschwarzes Tiefseeungeheuer kauert die Maschine im Schatten desTour Eiffel. Mit ihren Greifarmen aus Kupferspulen hält sie Menschen gefangen. Mitten auf derExposition. Arbeiter schnallen die Probanden stundenweise fest, um dem Publikum danach ihre Arbeitskraft in Sechzehn-Stunden-Schichten vorzuführen. Es ist barbarisch.
Und die Besucher sind begeistert.
Die offiziellen Mitarbeiter wissen vermutlich nicht, für wen sie arbeiten. Aber an einen Metallpfeiler gelehnt, spielt ein Kerl mit einer Zigarrenschatulle, und mit jeder Bewegung spannt sein Frack an den sich wölbenden Schultern. Garantiert vom Orden der Nyx. Einer ihrer bulligen Handlager. Von der Sorte, die meine Familie aus unserem Appartement verschleppt haben muss. Papa in dieses Monstrum aus Metall und Kabeln gezwängt –
Ich schlucke die Erinnerungen herunter. »Soll ich probieren, etwas aus ihm herauszulocken? Louise hat mir ein paar ihrer Tricks beigebracht.«
»Wirklich?« Eugène zieht eine Augenbraue hoch. »Vielleicht solltest du die vorher üben? Ich stelle mich großzügigerweise als Versuchsobjekt zur Verfügung.«
Der Nyx klappt die Zigarrenschatulle zu und stößt sich vom Pfeiler ab.
»Also bespitzeln, nicht aushorchen.« Ich bahne mir einen Weg durch die Menge, Eugène auf den Fersen. Zwischen aufgetürmten Frisuren und Zylindern erhasche ich nur flüchtige Blicke auf die Muskelberge des Nyx.
»Ich meine, ich sehe die Vorteile. Dennoch … fühlt es sich nicht irgendwie falsch an?«, murmelt eine bleiche Madame durch zierliche Finger in Spitzenhandschuhen.
Schnaubend quetsche ich mich weiter. Ein paar mögen es barbarisch finden – aber am Ende betrifftSirènes dieBourgeoisie nicht. Sie werden wegschauen, sobald die Gräuel der Maschine hinter Fabrikwänden stattfinden.
Hitze staut sich unter den Seidenbahnen meines Kleides, obwohl die Frühlingssonne nur schwach flimmert. Verflucht sei dieses neumodische Korsett, das nicht nur die Taille abschnürt, sondern auch dasDécolleté nach vorn und dasDerrière nach hinten verbiegt, bis man aussieht wie eine aufgeplusterte Taube. Mehr und mehr Menschen kesseln mich von allen Seiten ein. Mein Atem beschleunigt, dochich komme nicht voran. Hat sich das Publikum auf einen Schlag verdoppelt?
Jemand zerrt mich aus der Falle. Eugène. »Immer noch nicht gut mit Menschenmassen?« Er schirmt mich vom Gedränge ab.
Mein Herzschlag entschleunigt. »Es wäre halb so schlimm, müsste ich nicht diese lächerliche Aufmachung tragen.«
Der Nyx verschwindet zwischen zwei kastenförmigen Gebäuden. DasPanorama Transatlantique und dasMaréorama, so groß und klobig, weil es ein ganzes Dampfschiff fassen muss.
»Sollen wir lieber mit derMétro fahren?« Sein Grinsen färbt den betont unschuldigen Ton, während wir weiterdrängen. Er wird mich wohl nie vergessen lassen, dass ich beinahe