3 Die Phase der Inspiration
3.1 Josefs Träume
Nun war Josefs Verhältnis zu seinen Brüdern bereits schwer unterkühlt, da berichtete er ihnen noch von seinen Träumen (Gen 37,6-10). Wohl jeder Leser wird sich die Frage stellen, was Josef dazu bewogen hat, den Brüdern von seinen Träumen zu erzählen. War er in diesem Moment einfach nur naiv oder unverschämt? Eine klare Antwort erfährt der Leser nicht. Dem Autor scheinen die Inhalte seiner Träume von größerer Bedeutung zu sein.
Im ersten Traum sah Josef sich und seine Brüder beim Garbenbinden. Josefs Garbe richtete sich auf und blieb inmitten der anderen Garben stehen, während diese sich vor Josefs Garbe verneigten. Die Bedeutung des Traumes war den Brüdern schnell klar: Der Traum symbolisierte Josefs Vorrang vor ihnen.
Der zweite Traum war eine Steigerung des ersten. In diesem sah Josef sich zwischen den Gestirnen und es verneigten sich Sonne, Mond und elf Sterne vor ihm. Die Himmelskörper standen in diesem Traum für den Familienkosmos. Die Sonne repräsentierte das väterliche Familienoberhaupt. Der Mond stand für die Mutter und die Sterne für die Brüder, was ja schon aus deren Zahl sehr deutlich wurde, schließlich hatte er elf Brüder. Mit so viel Naivität oder Überheblichkeit hatte selbst der Vater Mühe und musste seinen Sohn fragen, ob er ernsthaft glaube, dass seine ganze Familie sich vor ihm niederwerfen würde. Doch tat Jakob diese Träume nicht als absurd ab, sondern „behielt diese Worte“ (Gen 37,11). Für Jakob waren Träume wie für viele seiner orientalischen Zeitgenossen nicht immer unbegründet. In Träumen sprach auch Gott zum Menschen.
Diese Träume brachten das Fass zum Überlaufen. Das ohnehin sehr unterkühlte Verhältnis von Josef zu seinen Brüdern schien nun irreparabel beschädigt zu sein. Gerade in dieser Situation schickte der Vater seinen Lieblingssohn alleine zu ihnen. Nachdem Josef von seinen Träumen berichtet hatte, hatten sich ihre Wege getrennt. Während Josef bei seinem Vater in Hebron blieb, zogen die Brüder mit den Tieren über 100 Kilometer weiter nach Sichem. Josef sollte dort nach ihrem Wohlbefinden sehen und machte sich auf den Weg (Gen 37,12-14). Diese Reise gibt dem Leser einige Bedenken auf. Was hat sich Jakob eigentlich dabei gedacht? Hatte er nicht ahnen können, dass das „Wohlbefinden“ seiner anderen Söhne wahrscheinlich durch den „Träumer“ enorm gestört werden würde? Ein Vater, der einen Sohn besonders liebt, sollte sich doch darüber im Klaren sein, dass er seinen Sohn durch solch eine Reise gefährdet.
Als Josef in Sichem ankam, konnte er seine Brüder anfangs nicht auffinden. Ein Fremder ging auf Josef zu, als er ihn umherirren sah (Gen 37,15-17). Dieser hatte von den Brüdern vernommen, dass sie 25 Kilometer nördlich nach Dotan ziehen wollten. Es ist auffällig, dass in dieser sonst so knappen Erzählung, die viele Details und Umstände unerwähnt lässt, dieser Fremde erwähnt wird, der Josef schließlich zu seinen Brüdern führte. Vielleicht soll damit angedeutet werden, dass Josef von Gott selbst zu seinen Brüdern geführt wurde.
Nachdem Josef schließlich seine Brüder fand, sahen sie ihn schon aus der Ferne in seinem Prinzenrock und planten, ihn kaltblütig zu ermorden. Womöglich hatten sie dabei auch den Hintergedanken, dass seine Träume nicht in Erfüllung gehen sollten (Gen 37,18-20). Wenn sie die Hauptfigur der Träume beseitigten, würden