1.
Weiße, glitzernde Gipfel, die in einen azurblauen Himmel ragen, stille, verschneite Wälder, hellblau schimmerndes Eis auf Seen und Flüssen und irgendwo in dieser unberührten Natur auf einer Lichtung ein kleines Blockhaus, aus dessen Schornstein sich der Rauch einladend in die kristallklare Luft kringelt – Winter in Kanada.
Versunken in ihren Tagtraum von der kanadischen Wildnis lächelte Julia vor sich hin, bis Lars’ Stimme sie ziemlich ruppig ins Hier und Jetzt zurückholte – in das triste Grau der Hamburger City.
»Ich kann es immer noch nicht fassen«, sagte ihr Freund. »Wenn es die Côte d’Azur wäre oder die Schweiz, aber nein, es zieht dich in irgendein Kaff mitten in den Rocky Mountains. Und das auch noch im November.«
Julia seufzte lautlos in sich hinein und schwieg, wie sie es bereits seit einer Viertelstunde tat, während Lars seinem Frust immer wieder lautstark Ausdruck verliehen hatte. Sie kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie warten musste, bis sich der Orkan, den er über sie hinwegschickte, gelegt hatte. Erst dann würde sie wieder normal mit ihm reden können. So sah sie einfach schweigend in den Oktoberregen, der genauso schnell und hart auf die Windschutzscheibe prasselte wie Lars’ Worte auf sie einprasselten. Das grelle Licht der Autoscheinwerfer auf dem nassen Asphalt erschwerte die Sicht. Um diese Uhrzeit herrschte Rushhour in Hamburg. Stoßstange an Stoßstange drängten sich die Autokolonnen durch die City. Welch ein Kontrast zu der wunderschönen Landschaft, die sie gerade noch vor ihrem inneren Auge gesehen hatte!
Mit verbissener Miene, die Hände so fest ums Lederlenkrad des Sportwagens gelegt, dass die Knöchel an seinen Händen weiß hervorstachen, führte Lars seinen Monolog ungebremst fort. »Ich dachte, wir gehören zusammen. Wir haben gesagt, dass wir uns Weihnachten verloben. Schon vergessen? Das ist in neun Wochen. Und jetzt willst du dich einfach so davonmachen?«
Julia verstand seinen Ausbruch sogar. Zu dumm, dass er, als er sie abgeholt hatte, völlig unvorbereitet das Schreiben vom Kultusministerium in der Diele entdeckt hatte. Ihr Fehler. In den zwei Tagen nach Eintreffen des Briefes hätte sie diesen längst in die Schreibtischschublade legen können oder wenigstens zurück in den Umschlag. Zu spät. Während sie sich im Bad geschminkt hatte, entdeckte Lars die Bewilligung ihres Antrags auf Lehreraustausch, den sie ihm gegenüber bisher nie erwähnt hatte.
»Hast du eigentlich auch etwas dazu zu sagen?«, fauchte er sie von der Seite an. »Warum schweigst du so beharrlich? Kann ich dieses Schweigen als Schuldeingeständnis auslegen?«
Wie bitte? Julia setzte sich aufrecht hin. Von wegen.
»Schuldeingeständnis?«, wiederholte sie mit hochgezogenen Brauen. »So ein Quatsch. Als ich mich vor einem Jahr als Austauschlehrerin für Kanada beworben habe, kannten wir uns noch gar nicht. Ich …«
»Genau«, unterbrach Lars sie hitzig. »Aberheute kennen wir uns. Und lieben uns. Die Sache dürfte damit wohl erledigt sein. Du bist heute in einer anderen Lebensphase als noch vor einem Jahr.«
»Aber mein Traum ist geblieben«, entgegnete sie ruhig. »Und jetzt bietet sich mir die Möglichkeit, mir diesen Traum zu erfüllen.«
»Und ich? Wir?« Lars trat abrupt auf die Bremse, um in letzter Sekunde einen Auffahrunfall zu vermeiden. Beide flogen sie nach vorn, die Sicherheitsgurte rasteten ein. Hinter ihnen erklang entrüstetes Hupen. Ungeachtet all dessen lamentierte Lars weiter: »Hast du dir mal überlegt, was die Leute denken werden? Meine Freunde, der Bekanntenkreis meiner Eltern. Die glauben doch, dass in unserer Beziehung etwas nicht stimmt, wenn du mich jetzt für ein halbes Jahr allein lässt.« Er schüttelte so heftig den Kopf, dass sein stets exakt gezogener, blonder Scheitel aus der Form geriet und ihm ein paar Strähnen in die Stirn fielen.
Julia lächelte. So erinnerte