Mumien in Europa
Die Mumien in Europa sind entweder Trockenmumien, welche meist nur in geschlossenen, gut durchlüfteten und kühlen Räumen entstehen (Nerlich und Raffaella Bianucci 2020), Moorleichen und, eher selten, Eismumien im Hochgebirge (Fleckinger 2014).
War alles ganz anders? Die Mumien aus dem Mesolithikum
Zu Beginn des Jahres 2022 haben Wissenschaftsmedien ein Thema aufgegriffen, welches unser Bild, wie und wann die Mumifizierungstradition entstand, ins Wanken bringt. Mesolithische Bestattungen aus Portugal könnten die Geschichte neu schreiben:
Das Sado-Tal in Portugal erhielt seinen Namen durch den Fluss Sado, dessen Quelle im Gebirge Serra da Vigia liegt. Von dort fließt der Sado etwa 180 Kilometer in überwiegend nördlicher Richtung und mündet bei der Stadt Setúbal südlich von Lissabon in den Atlantik. Anfangs der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurden in Poças de S. Bento and Arapouco mesolithische (= mittlere Steinzeit) Begräbnisstätten entdeckt und archäologisch erforscht; es handelte sich um 13 Bestattungen. Einige dieser Bestattungen sind insofern auffällig, weil es sich um möglicherweise absichtlich getrocknete und damit mumifizierte Leichname handelt. Jedenfalls deutet die sehr starke Anwinkelung der Arme und Beine, der Zustand ihrer Gelenke und ihre Körperhaltung nicht darauf hin, dass bloß eine der typischen Hockerbestattungen vorliegt, sondern dass eine Trocknung in Hockerhaltung vor der eigentlichen Beerdigung unter Muschelhaufen stattfand. Selbst feine Knöchelchen lagen noch in anatomisch richtigem Verbund, ganz anders als bei einem normalen Verwesungsvorgang zu erwarten, wenn nach der Weichteilzersetzung deren Zusammenhalt schwindet (Podbregar 2022).
Im (Spät)-Mesolithikum finden sich in Portugal Gräberfelder in den Tälern des Tejo und des Sado, wie archäologische Ausgrabungen belegen konnten. In einer Studie konnte eine Chronologie der Bestattungsaktivitäten mittels 14C-Daten von menschlichen Knochen vorgestellt werden. Die Ergebnisse deuten auf einen Zeitrahmen der ca. 8500-8300 cal BP (6550-6350 v. Chr.) beginnt. Als sich erste neolithische Bauern im Südwesten Iberiens ab ca. 7450 cal BP ansiedelten, wurden diese Grabstätten weiterhin von mesolithischen Jägern und Sammlern genutzt. Jäger und Sammler einerseits und Bauern und Viehzüchter andererseits koexistierten zunächst, aber ca. 7000 cal BP (ca. 5050 v. Chr.) enden die mesolithischen Bestattungen (Peyroteo-Stjerna u. a. 2022).
Außer in ägyptischen Quellen findet man keine frühzeitlichen schriftlichen Beschreibungen von Mumifizierungsvorgängen, schon gar nicht für die Mittel- und Jungsteinzeit. Forscher müssen sich deshalb auf die Interpretation archäologischer Funde und mehr noch auf deren gute Dokumentation verlassen. Da erwies es sich als Glücksfall, dass kürzlich wiederentdeckte Grabungs-Fotos aus dem Sado-Tal aus den 1960er Jahren den Bestattungsstil der dortigen mesolithischen Gräber unter Muschelschalenhaufen zeigten, und wie die Leichen hineingelegt und begraben wurden. Die meisten verfügbaren archäologischen Materialien und Dokumentationen wurden im Nationalmuseum für Archäologie archiviert, aber einige Fotografien, Lagepläne und Feldzeichnungen fehlten leider (Peyroteo Stjerna, 2016). Schließlich tauchten aber bislang vermisste Filmrollen im Nachlass des Archäologen Manuel Farinha dos Santos (1923–2001) auf. Handschriftliche Notizen auf der Originalverpackung der Filmrollen wiesen darauf hin, dass sie Fotografien von den Muschelhaufen von Arapouco 1962 (ein Film) und Poças de S. Bento 1960 (zwei Filme) enthielten. So war es dann doch möglich, auf eine sehr gute Dokumentation zurückzugreifen (Peyroteo Stjerna et al., 2022). Wie bei anderen Begräbnissen unter Muschelhügeln im Sado-Tal zeigen die Ausgrabungsfotos, dass die Bestattungen nahe beieinander platziert wurden, wobei die vorherigen Bestattungen kaum gestört wurden, was auf die Kenntnis früherer Bestattungen schließen lässt (Peyroteo-Stjerna, 2016). Einige Grabstellen überschneiden sich, weil derselbe Platz wieder verwendet wurde, wobei die ältere Bestattung gestört und teilweise entfernt wurde. Es konnten insgesamt 13 Bestattungen archäothanatologisch beurteilt werden: acht aus Arapouco (1962) und fünf aus Bento (1960). In Arapouco war die häufigste Lageposition des Leichnams die Rückenlage (n = 6) oder die seitliche Lagerung (n = 2), wobei die unteren Gliedmaßen in zum Oberkörper hin stark angezogen waren und die Füße hingegen zum Gesäß. In Bento wurden die meisten Leichen mit vor dem Körper gebeugten Gliedmaßen gelagert, davon lagen drei auf der rechten Seite und eine auf der linken Seite. Nur eine Leiche befand sich in Rückenlage (Peyroteo Stjerna et al., 2022).
Ein Umstand fiel besonders auf, die eigentümliche Positionierung der Beine im Grab - eine Position mit „stark gebeugten Extremitäten bei Fehlen von Exartikulationen bestimmter bedeutender Teile des S