Die Totenstadt
Auf dem Kirchturm
Als Richard die Kammertür öffnete, kam ihm eine schneidende Kälte entgegen, und wie er die Schwelle überschritt, sah er sich auf dem Söller des Kirchturmes seiner Vaterstadt.
Er stand nicht zum ersten Male hier oben und kannte schon das Panorama, das sich tief unter ihm ausbreitete.
Es war ein kalter, klarer Januartag eines schneereichen Winters. Der Schnee lag zu beiden Seiten der Straßen hoch aufgehäuft und hing festgefroren über die Dächer hinab.
Reizend war das lebende Bild, von hier oben ausgesehen. Wie die kleinen Menschlein in den Straßen trippelten, wie sie in den Durchgängen verschwanden und auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kamen, wie die Pferdchen vor den winzigen Wagen trabten und die Droschkenkutscher unten am Halteplatze neben der Kirche die Arme um den Leib schlugen! Dort war der Schwanenteich; Schlittschuhläufer tummelten sich darauf, und weiter über die Stadt hinaus sah Richard die Umgegend unter dem weißen Leichentuche des Winters liegen, und nur dunkle Punkte bezeichneten die Lage der eingeschneiten Dörfer.
Plötzlich geschah dort unten etwas Besonderes. Zuerst sah Richard eine Dame hinfallen, die ausgeglitten sein mochte, und die nicht wieder aufstand, da ihr niemand behilflich sein mochte, – dann stürzten zwei andere Menschen, dann ein Pferd und noch eins, und nun sanken die soeben auf der Promenade mit klingendem Spiel marschierenden Soldaten eines Regimentes in Reihen zu Boden, gerade so, als wenn man aufgestellte Bleisoldaten der Reihe nach umwirft. Und überall, wohin Richard auch blicken mochte, wiederholte sich dieses sonderbare Schauspiel.
Von hier oben beobachtet, wirkte es allerdings nur possierlich, dort unten aber schien eine Panik entstanden zu sein. Die ganze Stadt glich einem aufgestocherten Ameisenhaufen, die Straßenpassanten gingen nicht mehr nur in schnellem Geschäftsschritt, nein, jetzt rannten sie wirklich aufgeregt hin und her – um dann früher oder später ebenfalls nieder zu stürzen und sich nicht wieder zu erheben.
Gleichzeitig merkte Richard noch etwas anderes. Bis vor einem Augenblick hatte er noch die schneidende Kälte verspürt; jetzt plötzlich wurde es ihm siedend heiß. Und das war keine Einbildung. Die Wärme lag wirklich in der Luft, denn plötzlich begann es von den Dächern zu tropfen. Es floss, es goss, und schon polterte der Schnee donnernd auf die Straßen hinab!
Richard verließ den Söller, um sich hinunter zu begeben.
Was sich Richard gewünscht hatte
Tag und Nacht entstehen durch die Drehung der Erde um sich selbst, der Wechsel der Jahreszeiten aber wird durch die Drehung der Erde um die Sonne verursacht. Dabei bleibt sich die Erdachse auf der elliptischen Laufbahn um die Sonne immer parallel. Diese Achse der Erde geht durch den Nordpol und durch den Südpol.
Nun hatte Richard gewünscht, dass sich die Achse der Rotation um neunzig Grad verschöbe, dass also die neuen Pole auf den bisherigen Äquator zu liegen kämen.
Die Insel Singapore wird von dem Äquator durchschnitten. Denkt man sich von ihr aus eine Linie durch das Zentrum der Erde gezogen, so stößt man gerade auf die Stadt Quito in dem südamerikanischen Staate Ecuador. Diese beiden Punkte hatte Richard als die neuen Pole der Erdachse bestimmt.
Macht man sich dies auf einem Globus klar, so wird man finden, dass der dadurch entstandene neue Äquator durch Deutschland geht, und zwar genau über Leipzig. Dies hatte Richard gewollt. An einem eiskalten Januartage sollte seine Vaterstadt durch einen Rutsch der Erdachse plötzlich direkt auf dem Äquator liegen.
Die plötzliche Wärme und das Schmelzen des Schnees konnte er sich also wohl erklären, nicht aber das Umfallen von allem Lebendigen.
In der Totenstadt
Er hatte den Fuß der Turmtreppe noch nicht erreicht, als er sc