1. KAPITEL
Oliver Langley atmete tief ein. Nun fing sein neues Leben an. Noch vor einem halben Jahr hatte er sich ein anderes Leben ausgemalt – bevor seine Welt völlig aus den Fugen geraten war. Bevor sein Zwillingsbruder Rob nach einem Erdbeben für eine humanitäre Hilfsorganisation gearbeitet hatte und ihm der Blinddarm geplatzt war. Bevor Robs Nieren durch eine schwere Blutvergiftung schwer geschädigt worden waren. Bevor Ollie ihm eine Niere gespendet hatte.
Bevor Ollies Verlobte die Hochzeit abgesagt hatte.
Daran war er selbst schuld, schließlich hatte er sie gebeten, die Zeremonie zu verschieben. „Tabby, Rob ist von der Dialyse zu geschwächt, um zur Hochzeit zu kommen und mein Trauzeuge zu sein.“ Zu einem späteren Termin hätten beide Brüder die OP überstanden und die ganze Familie könnte dabei sein und zusammen feiern.
„Lass uns die Hochzeit um ein paar Monate verschieben. Die Transplantation ist hoffentlich Anfang Juni, sodass wir uns im August gut erholt haben werden. Dann könnten wir im Spätsommer heiraten.“
„Die Hochzeit verschieben.“ Tabby schwieg, als würde sie überlegen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein.“
Fassungslos sah er sie an. „Ich weiß, dass das viel Aufwand bedeutet, Tab. Aber ich helfe natürlich mit, so viel ich kann.“
„Darum geht es nicht, Ollie. Ich … ich denke schon länger über uns nach. Und ich glaube, wir sollten die Hochzeit absagen.“
„Absagen?“ Ihm wurde kalt. „Warum? Hast du einen anderen Mann kennengelernt?“
„Nein. Es liegt nicht an dir, sondern an mir.“
Sie war also zu nett, um ihm zu sagen, dass es doch an ihm lag. „Tabby, was auch immer das Problem ist – zusammen finden wir bestimmt eine Lösung. Es tut mir leid, wenn ich dich irgendwie verletzt habe.“ Ollie liebte sie. Er wollte sie heiraten und eine Familie mit ihr gründen. Eigentlich hatte er geglaubt, dass sie diese Gefühle erwiderte.
Tränen traten ihr in die Augen. „Es liegt nicht an dir“, sagte sie noch einmal. „Dass du Rob eine Niere spenden willst, verstehe ich, schließlich ist er dein Bruder.“
„Aber?“, brachte Ollie mühsam heraus.
Sie sah ihn an. „Aber was ist, wenn etwas schiefgeht? Wenn du krank wirst, wenn deine verbleibende Niere nicht mehr funktioniert und du dann immer zur Dialyse musst? Was, wenn sich kein passender Spender für dich findet und du stirbst?“
„Das wird ganz bestimmt nicht passieren.“ Er wollte tröstend die Arme um sie legen, doch sie wich zurück.
„Du hörst mir nicht richtig zu, Ollie. Ich kann das nicht. Du kennst doch die Situation meiner Eltern.“
Tabbys Vater war am chronischen Erschöpfungssyndrom erkrankt und brachte schon seit Jahren kaum Energie für irgendetwas auf.
„Mum hat sich an ihr Ehegelübde gehalten: ‚in guten und in schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit‘. Mir war das früher nicht bewusst, aber sie hat sich kaputtgearbeitet. Sie hat dafür gesorgt, dass genug Geld da war und dass es meinem Bruder und mir gutging. Zusätzlich hat sie sich um Dad gekümmert. Als wir älter waren und uns klar wurde, wie krank Dad ist, haben Tom und ich mitgeholfen, so gut wir konnten. Aber für unsere Mutter war es jeden Tag ein Kampf. Sie hat sich völlig aufgeopfert, um sich um Dad zu kümmern. Und das kann ich für dich einfach nicht tun.“
Ollie runzelte die Stirn. „Ich bin doch gar nicht krank, Tab. Nach der Transplantation werde ich mich eine Weile erholen müssen, aber davon abgesehen wird es mir gutgehen. Rob wird dann auch langsam wieder fit werden, und bald ist alles wie immer.“
„Du kannst mir aber nicht garantieren, dass es dir immer gutgehen wird und ich dich nicht pflegen muss, Ollie.“ Tabby schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, aber ich kann dich nicht heiraten.“ Mühsam kämpfte sie gegen die Tränen an. „Ich weiß, das