Verrückt! Total absurd und skurril!
Christopher schlürfte den letzten Schluck Kaffee und stellte den Becher vor sich auf den niedrigen Tisch. Weit entfernt von seinem Laptop, auf dem er soeben eine erstaunliche Videoaufnahme angesehen hatte. Er erhob sich vom Sofa. Steif und verspannt nach der dritten Nachtschicht in Folge. Als er sich streckte, streiften seine Fingerspitzen die Decke der Gartenlaube. Trotz der beengten Verhältnisse bot seine zeitweilige Unterkunft schlichten Komfort. Auf rund zwanzig Quadratmetern drängten sich eine Küchenzeile, das ausziehbare Schlafsofa, der Tisch, zwei Sessel, ein Büfett und ein Sideboard. An den Wänden hingen handgestickte Landschaftsbilder. Durch eine schmale Falttür gelangte man in ein winziges Bad mit Dusche und Chemieklo. Ein mobiler Heizstrahler sorgte bei Bedarf für behagliche Wärme.
Er trat ans Fenster. Jenseits der Scheibe erstreckte sich ein morgendliches Idyll. Die Sonne hob sich allmählich in den strahlend blauen Himmel. Vögel zwitscherten gemütliche Melodien. Ein leichter Wind bewegte die Blätter eines Apfelbaumes. Der musste einst sehr schön ausgesehen haben. Bevor ein durchgedrehter Landschaftsgärtner mit Axt und Laubsäge über ihn hergefallen war. Klaffende Lücken im Geäst zeugten von der mutwilligen Verstümmelung. Ein Kaninchen hoppelte über den Rasen. Vorbei an den Überresten bemalter Ostereier, die Stunden zuvor in ihrer hübschen Ganzheit an einem gelb blühenden Strauch gehangen hatten. Nun lagen sie zerbröselt über das Gras verteilt. Buntes Konfetti auf dunkelgrünem Grund. Dazwischen ein silbrig glänzendes Windspiel. Das Kaninchen schnupperte neugierig am Metallständer eines pinkfarbenen Flamingos, dessen langer Hals in einem nahezu perfekten Neunziggradwinkel abgeknickt war. Der Kopf zeigte auf den Apfelbaum. Ein höhnischer Gruß. Einige Schritte entfernt lag ein zweiter Flamingo im Gras. Gartenkunst à la Rambo.
Seit dem vergangenen Herbst war der Schrebergarten seiner Auftraggeber Schauplatz merkwürdiger Vorfälle. Umgekippte Gartenmöbel, abgerissene Blumenampeln, ein entwurzelter Rosenbusch. Farbspritzer an den Wänden der Gartenlaube und des Geräteschuppens. Hundekot auf der hölzernen Terrasse. Am vergangenen Ostermontag thematisch passend eine Attacke mit rohen Eiern. Während der Winterpause hatten diese Ereignisse aufgehört. Einen brachliegenden Schrebergarten zu verschandeln, machte wohl keinen Spaß. Doch nach den ersten Frühlingstagen begannen die Übergriffe erneut. In regelmäßigen Abständen ließ jemand seinen Ärger an dem kleinen Stück vom Glück aus, das Marita Haberling und ihr Ehemann Hubert seit zwanzig Jahren hingebungsvoll hegten und pflegten. Es geschah stets nachts und nie an den Wochenenden. Zeugen gab es bislang keine. Für die Haberlings standen die Schuldigen trotzdem fest: eine Gruppe Jugendlicher, die die Schrebergartenkolonie heimsuchte, um Joints zu rauchen, Alkohol zu trinken und grundsätzlich laut und verdächtig zu sein. Marita Haberling, eine streitbare Rentnerin, vertrieb die Störenfriede regelmäßig. Der Polizei lagen Strafanzeigen wegen Sachbeschädigung vor. Frau Haberling kannte ihre Rechte. Jedes Einzelne, im Detail. Aussichten, den oder die Täter auf frischer Tat zu ertappen, gab es kaum. Der Schrebergarten konnte nicht rund um die Uhr von Beamten überwacht werden.
Vorhang auf für die Privatdetektei Kleemeyer.
Wir übernehmen jeden Fall.
Christopher gähnte. Die Welt verschwamm vor seinen müden Augen. Er rieb sich das Gesicht und blinzelte, bis Farben und Formen zurückkehrten. Die Haberlings trafen um zehn Uhr ein. Ihm blieb eine Viertelstunde, um seine grauen Zellen in Schwung zu bringen. Die Kaffeemaschine in der Küchenzeile hielt den dringend benötigten Treibstoff bereit. Er füllte seinen Becher erneut mit der schwarzen Flüssigkeit. Gab Milch und Zucker dazu. Danach öffnete er die Eingangstür. Kühle Morgenluft strömte herein. Sie brachte den frischen Duft des Frühlings mit sich. Obwohl ihn in seinem T-Shirt fröstelte, ließ er die Tür offen. Sauerstoff war wichtiger als Wärme. Er setzte sich aufs Sofa, nahm einen Schluck des heißen Kaffees und spielte die Videoaufnahme ein viertes Mal ab.
Zunächst sah man bloß eine Gestalt, die sich im Zwielicht des anbrechenden Donnerstags dem Schrebergarten näherte. Klein, schlank, gekleidet in einen dunklen Mantel, eine Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen. Vor dem Gartentor blieb die Gestalt stehen, den linken Arm seitlich an den Körper gepresst. Sie blickte sich verstohlen um. Machte sich am Tor zu schaffen und betrat das Grundstück. Die Szene rückte näher heran, als der Zoom des Camcorders betätigt wurde. Das diffuse Licht genügte, um unter der Schirmmütze das schmale Gesicht einer Dame in den frühen Si