Eins
Tamina
„Kann mir mal bitte einer erklären, was hier los ist?“ Meine Stimme klingt ein paar Oktaven höher als gewöhnlich, was wohl daran liegt, dass ich kurz vorm Durchdrehen bin.
Da kommen wir gerade von unserer ersten erfolgreichen Mission als Geisterjäger wieder und plötzlich machen mein Geisterjägerpartner Arwan und meine Großmutter Ariana einen auf beste Freunde. Mein Kopf schießt zwischen den beiden hin und her.
Ariana erholt sich als erste von ihrem Schreck und deutet dann auf die Gartenbank unter dem Apfelbaum. „Setzen wir uns doch.“
Mechanisch setzen sich meine Beine in Bewegung und kurz darauf sitzen wir zu dritt im Schatten des Baumes. Immer noch herrscht Schweigen.
„Also?“, frage ich entnervt. Meine Erschöpfung nach unserer Mission ist wie weggeblasen, stattdessen rast das Adrenalin durch meinen Körper. Mir kommt ein entsetzlicher Gedanke: „Du bist mein Großvater!“, herrsche ich Arwan an.
Der guckt mich an, als ob er ernsthaft um meinen Verstand fürchtet, doch für mich macht das alles auf einmal Sinn. Meine Großmutter hatte mir zwar immer erzählt, dass mein Großvater ein paar Jahre vor meiner Geburt gestorben sei, aber was wusste ich schon? Am Ende ist das gelogen gewesen. Deshalb hat Arwan mich so aufopfernd beschützt! Ich spüre, wie mir flau im Magen wird.
Kurz bevor ich hyperventilieren kann, höre ich wie unter Wasser die Stimme meiner Oma. Lacht sie etwa?
„Nein, meine Liebe, das ist er ganz bestimmt nicht. Ihr seid weder verwandt noch verschwägert!“, sagt sie nun.
Mein Blick klärt sich wieder etwas. „Nicht?“, frage ich matt.
Das Lächeln auf Arianas Gesicht erstirbt. Ich traue mich nicht, Arwan anzuschauen, aber auch so spüre ich seine Anspannung nur zu deutlich. Ariana setzt an zu erzählen.
„Ich war ein junges Mädchen, etwa sechs Jahre alt“, begann sie. „Ich lebte mit meinen Eltern und meinen beiden älteren Geschwistern in Dresden. Bis zum vierzehnten Februar 1945. Die Stadt wurde bereits seit dem Vortag von den Alliierten bombardiert, doch wir waren geblieben. Ich weiß nicht, wieso. Es war schrecklich und ich weiß noch, dass ich furchtbare Angst hatte. Als in der Nähe eine Bombe detonierte, wurden meine Eltern und Geschwister durch herumfliegende Trümmerteile getötet. Ich habe in dem Moment nichts abbekommen, da ich genau zu der Zeit im anderen Teil unserer Wohnung war. Als ich zurückkam, lagen sie tot vor mir auf dem Boden.“
Arianas Stimme brach und erneut sammelten sich Tränen in ihren Augen. Ich wollte sie trösten, sie in den Arm nehmen, doch sie erzählte bereits weiter. „Ich schrie laut auf, als ich sie da vor mir liegen sah“ – bei dieser Erinnerung lief eine einsame Träne ihre Wange hinab – „und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich bei ihnen stand. Um mich herum tobte der Krieg weiter und bald bemerkte ich beißenden Rauch.“
Sie zitterte nun am ganzen Körper und war unfähig, weiterzusprechen.
Plötzlich setzte Arwan neben mir mit Grabesstimme an zu sprechen: „Tatsächlich war es wohl gar nicht sehr lange, Ariana. Sadwyn und ich waren als britische Soldaten ebenfalls in den Krieg involviert. Unsere Anwesenheit in Dresden zu erklären, würde jetzt zu lange dauern. Wir standen gerade in der Nähe, als wir sie schreien hörten.“ Arwan nickte leicht meiner Großmutter zu. Dann sprach er weiter: „Wir sahen nach und fanden Ariana. Uns war sofort klar, dass wir sie retten mussten. Doch das wäre uns beinahe nicht gelungen …“
Seine Stimme verlor sich. Dann schüttelte er den Kopf und zwang sich, weiterzusprechen: „Uns stellte sich jemand in den Weg und drohte, Ariana zu töten.“
„Du musstest etwas unternehmen, sonst wären wir nicht entkommen!“, rief Ariana. War es möglich, dass sie gerade meinen Geisterjägerpartner, den sonst so unverwüstlichen Arwan, tröstete?
Der schien nun bemüht, seine Geschichte zu Ende zu bringen. „Wie dem auch sei“, schloss er, „wir schafften es, zu entkommen und brachten Ariana hierher, zu ihrem Onkel und ihrer Tante.“
„Und seitdem habt ihr euch nicht wiedergesehen?“, fragte ich mit matter Stimme.
Ariana schüttelte den Kopf. „Nein. Das Letzte, was ich von den beiden sah, waren zwei Raben, die sich majestätisch in die Lüfte erhoben und davonflogen.“
Sie deutete auf unser Gartentor und erklärte: „Ich habe meinen Onkel so lange bekniet, bis er das Motiv mit den zwei Raben in die Gartenpforte eingearbeitet hat. Es sollte mich immer daran erinnern, wie ich hergekommen war. Außerdem wollte ich euch die Möglichkeit geben, zurückzukommen …“
Das Letzte hatte sie an Arwan gewandt gesagt. „Es sorgte natürlich für Verwirrung, als ich plötzlich allein in der Tür stand, ohne meine restliche Familie“, fuhr Ariana nun fort. „Meine Tante und mein Onkel ahnten wohl, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Wir einigten uns darauf, so zu tun, als hätten meine Eltern mich rechtzeitig hierher geschickt und so in Sicherheit gebracht. Und fortan wuchs ich bei ihnen auf. Wenn man es so betrachtet, wäre ich wohl ohne Sadwyns und Arwans Hilfe damals im Krieg gestorben. Und du wärst niemals geboren worden“, sagte sie an mich gewandt.
Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Also verdankte ich Arwan wohl zum wiederholten Male mein Leben. Ich wusste nicht, was ich von diesen Enthüllungen halten sollte… Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich Arwan gut kennen würde, doch nach dieser Eröffnung jetzt fühlte ich Unsicherheit in mir aufwallen.
„Was ist aus Sadwyn geworden?“, fragte Ariana leise.
Arwan antwortete: „Dem geht’s gut. Nach dem Krieg sind wir beide nach Wales zurückgekehrt, von wo wir ursprünglich stammen. Wynn ist noch immer dort.“
Ariana nickte bedächtig. Dann sagte sie langsam: „Seit ich gesehen habe, dass Tamina dein Band trägt, ahnte ich, dass wir uns früher oder später wieder begegnen würden. Ich bin froh, dass ich das noch miterleben durfte. Doch ich mache mir auch Sorgen; sei mir nicht böse, Arwan, aber als du damals aufgetaucht bist – obwohl du mich ja gerettet hast – war das nicht gerade ein gutes Omen. Sag mir, ich will auch keine Einzelheiten wissen, aber sag mir doch: Ist Tamina in Gefahr?“
Für einen Moment breitete sich Schweigen aus. Ich wollte schon etwas einwenden; meiner Oma sagen, dass sie verrückt war. Arwan hatte mich so oft gerettet und nun hatten wir doch gerade unsere größte Prüfung bestanden! Wir hatten unsere erste Geisterjägermission erfolgreich absolviert.
Bevor ich ein Wort davon aussprechen konnte, ließen Arwans Worte meine Welt erzittern: „Ariana, ich möchte dich nicht anlügen. Es tut mir so unendlich leid, aber Tamina ist in Gefahr. In großer Gefahr. Sie wird von zwei sehr talentierten und sehr gefährlichen Menschen gejagt.“
Ich starrte ihn an, Wut brandete in mir auf. „Ach ja? Und wann hattest du vor, mir das zu sagen?“, fauchte ich.
Arwan sah mich an, sein Blick hoffnungslos und traurig. „Am liebsten gar nicht“, gestand er dann. „Wir wollten, dass du wenigstens ein halbwegs sorgenfreies Leben würdest führen können. Aber Wynn und ich … wir können sie einfach nicht finden…“ Seine Stimme verlor sich.
„Werdet ihr versuchen, Tamina zu beschützen?“, fragte Ariana weiter.
„Wenn sie das noch wünscht, ja“, sagte Arwan leise.
Von drinnen wehten Stimmen zu uns heraus: „Ariana, der Kuchen ist fertig! Ist Tamina eigentlich draußen bei dir? Dann kannst du sie gleich mitbringen!“
Arwan stand auf. „Ich gehe jetzt. Tamina, es tut mir leid, dass ich dir nicht schon vorher reinen Wein eingeschenkt habe. Ich kann mir vorstellen, dass du jetzt Zeit zum Nachdenken brauchst. Falls du mit mir reden willst, ruf mich an.“
An Ariana gewandt fuhr er fort: „Es freut mich, dass es dir gut geht und wir uns wiedergesehen haben. Alles Gute, Ariana.“ Mit diesen Worten war er verschwunden.
Kaum, dass er weg war, verabschiedete sich auch meine Selbstbeherrschung und ich begann, Rotz und Wasser zu heulen.
Meine Oma tröstete mich: „Bitte, mein Herz, sei ihm nicht böse“, sagte sie sanft. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Er hat bestimmt nur getan, was er für das Beste hielt. Ich schätze, er wollte dich nur auf seine eigene Weise beschützen. Und was unsere Verwandtschaft angeht: Wusste er zuvor eigentlich überhaupt, dass ich deine Großmutter bin?“
Damit gab sie mir zu denken. Hatte ich ihm jemals von meiner Oma erzählt? Ich wusste es nicht. Sie streichelte meine Haare, während ich noch immer...