Kapitel 1
Ich beginne meine Geschichte mit meinem zehnten Lebensjahr. Meine Mutter starb an einer langwierigen Krankheit, die sie nach acht Monaten des Leidens zu Grabe brachte. Mein Vater tröstete mich über einen Verlust, den ich täglich mit bitteren Tränen beweinte. Seine Zuneigung, seine Gefühle, die mir so teuer waren, wurden ihm von meiner Seite auf das lebhafteste vergolten.
Ich war stets der Gegenstand seiner zärtlichsten Liebkosungen gewesen. Es verging kein Tag, an dem er mich nicht in seine Arme schloß und mich mit den süßesten Küssen überhäufte.
Ich erinnere mich noch daran, wie meine Mutter ihm eines Tages Vorhaltungen machte, daß er mich auf diese Weise verwöhnte. Er gab ihr eine Antwort, die mir später noch viel zu denken gab, obwohl seither bereits einige Zeit vergangen war.
„Worüber beklagen Sie sich, Madame? Ich habe keinen Grund zu erröten. Wenn sie meine Tochter wäre, so wären diese Vorwürfe vielleicht begründet, aber so fühle ich mich nicht in der Situation, das Beispiel Lots nachzuahmen. Ich bin glücklich, diese Zärtlichkeit für sie zu empfinden, die Sie so tadelnswert finden. Das, was Konvention und Gesetze bestimmen, ist keine Forderung der Natur. Es fällt daher dem denkenden Menschen leicht, sich darüber hinwegzusetzen.“
Diese Antwort habe ich nie wieder aus dem Gedächtnis verloren. Das Schweigen meiner Mutter, das darauf folgte, ließ sie mir noch bedeutungsvoller erscheinen, ja, ich glaube, daß dieses Gespräch, das ich zufällig belauschte, und die Gedanken, die ich mir darüber machte, mich noch fester an meinen Vater banden. Ich begriff wohl, daß ich alles in meinem Leben seiner Freundschaft verdankte. Dieser Mann, der so liebenswürdig, geistvoll und weise war, vermochte wahrhaftig die zärtlichsten Gefühle zu erwecken. Die Natur hatte mich begünstigt, als ob die Liebe selbst mich geformt hätte. Du weißt, meine liebe Eugenie, daß ich in diesem Punkt nicht übertreibe. Von Kindheit an hatte ich eine hübsche und ebenmäßige Figur, eine schlanke Taille und einen ausgezeichneten Teint. Die Lebhaftigkeit meiner braunen Augen wurde durch einen sanften und zärtlichen Blick gemäßigt, und mein Haar fiel in schönen Locken auf meine Schultern. Ich hatte ein fröhliches Gemüt, wenn ich auch ein wenig zur Nachdenklichkeit neigte.
Mein Vater studierte meine Neigungen und meinen Geschmack, und er kultivierte meine Anlagen mit der größten Sorgfalt. Die größte Mühe verwandte er darauf, mich zur Wahrheitsliebe anzuhalten. Er wollte, daß ich nichts vor ihm verberge, und er erreichte dies auch mit Leichtigkeit. Denn es war unmöglich, ihm etwas zu verschweigen. Seine strengste Strafe bestand darin, mir seine Zärtlichkeit zu verweigern. Ah, wie habe ich die wenigen Male, da dies geschah, darunter gelitten!
Einige Zeit nach dem Tod meiner Mutter schloß mich dieser hervorragende Mann eines Tages besonders innig in seine Arme.
„Laurette, mein liebes Kind“, sagte er, „Du bist nun beinahe elf Jahre alt, und Deine Tränen über den Verlust deiner Mutter sollten nun aufhören. Ich habe Dir genügend Zeit zur Trauer gelassen. Nun wollen wir durch vernünftige Beschäftigung für Deine Zerstreuung sorgen.“
Tatsächlich habe ich eine brillante Erziehung genossen. Ich hatte nur einen einzigen Lehrmeister: Meinen Vater. Aber er unterrichtete mich in allem. In Malerei, Tanz, Musik und allen Wissenschaften war er gleicherweise ein Meister. Es war ihm nicht schwer gefallen, sich über den Tod meiner Mutter hinweg zu trösten. Ich wunderte mich darüber, und eines Tages konnte ich mich nicht enthalten, mit ihm darüber zu sprechen.