In einem Wort, der Weg der Befreiung
gründet sich im Kula Dharma,
dem königlichen Weg der Shakti.
Kularnava-Tantra
Vorwort
Das Kaulajnananirnaya-Tantra des Mahasiddha Matsyendranath kennzeichnet den Übergang von einer magischen und erotischen Tradition aus dem Assam zu einer verfeinerten und philosophischen Tradition der großen kaschmirischen Meister des 9. und 10. Jahrhunderts: Somananda, Abhinavagupta, Kallata, Utpaladeva, bis zur poetischen Entfaltung von Lalla im 14. Jahrhundert.
Die Ankunft von Matsyendranath in Kaschmir und Nepal sowie die Übertragung des Kaula-Pfads – des Shaktipfads – werden von Abhinavagupta als grundlegend betrachtet. Im ersten Kapitel seines monumentalen Tantraloka1 huldigt er dem Mahasiddha: »Auf dass Matsyendranath mir wohlgesonnen sei, er, der das Netz ausgeworfen hat, das rot gefärbte Netz, ausgeschmückt mit Knoten und Löchern,[…] das sich allerorts entfaltet und ausdehnt.«2
Bemerkenswert beim Kaulajnananirnaya-Tantra ist, dass es eine Verbindung zum frühen Shivaismus im Hindustal, ja sogar dessen Fortbestand erkennen lässt: die Vorrangstellung der Yoginis, die Achtung vor dem Weiblichen in all seinen Formen, seien diese im Wunsch nach Einheit mit der Ganzheit menschlich, pflanzlich oder animalisch. Eine Antwort auf das Geheimnis von der Überlieferung der Unterweisungen zwischen dem Verschwinden der Zivilisation des Hindustals 1700 Jahre vor unserer Zeitrechnung und ihrem Wiederauftauchen in Kaschmir zu Beginn unserer Zeitrechnung könnte Matsyendranath sein.
Im Kaulajnana stehen alle magischen Praktiken, welche die Siddhi beziehungsweise die magischen Zauberkräfte betreffen: wie die Fähigkeit, in weite Ferne zu hören, sich an mehreren Orten gleichzeitig zu manifestieren, große Entfernungen in wenigen Augenblicken zurückzulegen, die Materie zu durchdringen, aber auch sich seiner Feinde zu erwehren. Praktiken aus der schwarzen Magie wie in den Bann schlagen, vernichten oder lähmen. Erstaunlicher und bei den Siddhi in anderen Quellen selten erwähnt – die Erlangung der dichterischen Gabe und die befreiende Kraft des Wortes.
Matsyendranath lebte mit seiner Gefährtin Konkanamba, der Mutter von Konka, in Kamarupa, einem heiligen Ort. Dort, so sagt uns die Mythologie, ist die Yoni der von Vishnu zerstückelten Shakti niedergefallen. Konkanamba wurde als Mahasiddha wahrgenommen. Sie und Matsyendranath verkörperten das magische Paar Shiva Shakti und lehrten gemeinsam die Praktiken des Kaula-Pfads. Diese wären sicherlich verloren gegangen, wären sie nicht von der Linie Lalita Devis übertragen worden, denn der Text an sich streift das Thema nur, ohne in die Übertragung der Praktiken hineinzugehen. Matsyendranath und Konkanamba wurden als Kulesvara und Kulesvari verehrt. Sie begaben sich nach Kaschmir und folgten dabei der nepalesischen Route. Sie führten die Tradition ein, indem sie zwischen Assam und Kaschmir mehrere Stätten für die Praxis gründeten. Ma