Kapitel 1
Es fährt kein Zug nach Irgendwo
Die Stimme war leise und zischend, jede Silbe eine einzige Drohung. »Ganz ehrlich: Manchmal könnte ich dir mit bloßen Händen den Hals umdrehen!«
Klaas Heiland stand im Eingang der Sonntaler Bahnhofswartehalle und riss die Augen auf. Für einen kurzen Moment wagte er es nicht einmal zu atmen.
Hatte er das eben richtig gehört? Da wollte jemand morden?
Das ebenso schmucke wie kleine Bahnhofshäuschen lag am östlichen Rand seiner nicht minder kleinen Gemeinde. Heiland hatte es noch nicht oft betreten, erst recht nicht am Abend. Sein fragender Blick fiel auf Wände, an denen sorgsam gerahmte Fahrpläne hingen, auf menschenleere Sitzbänke und den vielleicht saubersten Fußboden des gesamten Ortes. Ein klobig-beigefarbener Fahrkartenautomat wartete vergebens auf einen Ansturm von Kunden, ebenso der noch klobigere Snackautomat daneben. An der Tür der Toilette hing ein Schild, das ein gezeichnetes Duo von Zugbegleitern zeigte. Herr und Frau Schaffner winkten Heiland so fröhlich entgegen, als seien Mordgedanken das Letzte, das ihnen durch die Cartoonköpfe ging. Vor den Fenstern, die zumeist auf den jenseits der Halle gelegenen Bahnsteig wiesen, herrschte finsterste Abenddunkelheit.
Nur eines sah der Dorfpastor nicht: einenechten Menschen.
Ich hab mir das doch nicht eingebildet?, wunderte er sich. Vorsichtig trat er ein.
Nahezu die gesamte rechte Seite der Wartehalle gehörte dem Kundenschalter. Das Licht, das durch dessen gläserne Scheibe fiel, erhellte das Halleninnere leidlich. Heiland musste ein paar Schritte in den Raum machen, bevor er in die Kabine hineinschauen konnte. So fand er den Besitzer der drohenden Stimme.
Severin Winkelhuber saß an einem uralten Schreibtisch und starrte auf ein Telefon. Der Bahnhofsvorsteher und alleinige Herr des Sonntaler Schienenreiches sah ausgesprochen frustriert aus. Sein sonst so blasses Gesicht war puterrot, und Heiland hätte sich nicht gewundert, wenn die Hitze seiner Wangen das Glas seiner dicken Brille hätte beschlagen lassen. Als der Pastor hinübersah, fuhr Winkelhuber sich gerade seufzend über den blonden Vollbart.
»Herr Winkelhuber?«, fragte Heiland vorsichtig. »Ist … Ist alles in Ordnung?«
Sofort schaltete der Bahnmitarbeiter um. Er sah überrascht auf, kam dann aber schnurstracks an die Scheibe getreten.
»Willkommen am Bahnschalter Sonntal am See«, grüßte er durch die kleinen Sprechlöcher in der Scheibe. »Mein Name lautet Winkelhuber, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Äh«, stutzte Heiland. Der Text gehörte wohl zum Standardprogramm seines Gegenübers, das ihm so wohlbekannt war wie fast alle Einwohner seiner Gemeinde. »Ich frage mich eher, ob ichIhnen helfen kann. Sie wollen also jemanden erwürgen?«
»Was?« Winkelhuber hob entsetzt die Brauen. Dann schlich Verständnis über seine Züge. »Ach, das meinen Sie. Nein, nein, Herr Pfarrer. Ich habe mich nur geärgert. Über die Frau in der Zentrale, mit der ich eben telefonierte, verstehen Sie? Die ist mitunter sehr störrisch, wenn man mit Anliegen kommt, die nicht ihrem Plan entsprechen. Hätte ich gewusst, dass jemand in der Halle ist, hätte ich das natürlich nie und nimmer laut ausgesprochen. Das war nur laut gedacht, nicht ernst gemeint. Also: Sie möchten verreisen?«
Heiland nickte langsam. »Vielleicht, ja. Ich … Ich frage mich, was eine Fahrkarte von hier bis Niendorf kosten würde. Aber sind Sie sicher, dass …«
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. »Niendorf an der Ostsee«, wusste Winkelhuber sofort. Ein begeistertes Funkeln trat in seinen Blick. »Kleinen Moment, ich schau mal für Sie nach.«
Der Mann in der makellos sitzenden Bahnuni