Einleitung
Wie der Westen nach dem Fall der Berliner Mauer die Welt beherrschen wollte – und die einstigen Billiglohnländer selbst zu starken Wirtschaftsnationen aufstiegen.
Mehr als 30 Jahre lang hat der Westen in der Überzeugung gelebt, die beste aller Staatsformen hervorgebracht zu haben. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 galt zugleich als der Triumph des westlich geprägten Liberalismus über den Kommunismus, der mehr als 40 Jahre lang die größte Herausforderung des Kapitalismus dargestellt hatte. Von da an sollte der Glauben an die Vorteile einer globalen Arbeitsteilung herrschen. Damit meinte der Westen eine neue Weltordnung, in der er selbst oben steht und die Welt technisch, wirtschaftlich und ethisch dominiert, während die ärmeren Länder ihm mit billigen Arbeitskräften zuarbeiten sollten. Der Zerfall der Sowjetunion 1991 unterstrich für die reichen Nationen in Europa und Nordamerika die Überlegenheit ihrer Werte und ihres Systems.
Drei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer veröffentlichte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Manifest des neuen Zeitalters der liberalen Globalisierung:The End of History and the Last Man hieß das Credo der neuen Zeit.1 Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, so Fukuyamas These, würden sich überall auf der Welt Demokratie und Marktwirtschaft durchsetzen. Mit dem Sieg des liberalen Politik- und Wirtschaftsmodells würde die Globalisierung die Konkurrenz der gesellschaftlichen Ordnungsmodelle beenden. Fukuyama sollte der Vordenker dieser neuen Weltordnung sein, der die Überlegenheit Europas und Nordamerikas auf alle Ewigkeit festschreiben wollte.
In der Tat folgte auf den Fall des Eisernen Vorhangs die lange Ära einer relativ friedlichen Globalisierung. Unternehmen im Westen begannen, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern und weniger im Inland zu produzieren. Schon in den Jahrzehnten davor hatten westliche Unternehmen begonnen, lohnintensive Fertigung in Länder mit niedrigen Löhnen zu verlagern. Mit der Globalisierung erreichte dieser Trend eine neue Qualität: Die westlichen Unternehmen integrierten die Fertigungsstätten in den Schwellenländern vollständig in ihre Wertschöpfungskette. Deutsche Autos und deutsche Maschinen wurden zunehmend in Osteuropa oder in Ostasien gebaut. »Made in Germany«, jahrzehntelang das Markenzeichen deutscher Wertarbeit, verblasste angesichts der Tatsache, dass die Produkte deutscher Ingenieurskunst zunehmend im Ausland hergestellt wurden. Gleichzeitig machte sich der Westen zunehmend von der Lieferung wichtiger Vorprodukte aus China und den Schwellenländern abhängig. Dies bekamen amerikanische und europäische Unternehmen im Laufe der Corona-Pandemie schmerzhaft zu spüren, als die Lieferung von Computerchips und anderen wichtigen Komponenten empfindlich gestört war.
Die Globalisierung sollte ungeahnten Wohlstand für breite Massen in der gesamten Welt bringen. Die Schwellenländer in Asien und Afrika sollten nicht mehr ausschließlich Billiglohnproduzenten sein, sondern in die Wertschöpfungskette der reichen Nationen eingebunden werden und am steigenden Wohlstand auf der Welt teilhaben. Dennoch war die Arbeitsteilung in den Augen der multinationalen Konzerne festgeschrieben: Den Schwellenländern war die Rolle des Zuarbeiters zugewiesen. Die westlichen Unternehmen lagerten Tausende von Arbeitsplätzen in die neuen aufstrebenden Länder aus. Diese Verlagerung von Arbeitsplätzen traf nicht nur die Arbeiter am Fließband. Der Frankfurter Maschinenbauer Lurgi beschloss etwa 1997, circa 400 Ingenieure in Deutschland zu entlassen und ihre Arbeitsplätze nach Polen und Indien zu verlagern.2 Zur Begründung hieß es, in Deutschland koste eine Ingenieurstunde 200 bis 300 D-Mark (rund 102 bis 153 Euro), in Polen oder Indien 30 bis 60 D-Mark (rund 15 bis 30 Euro).
Der Westen strotzte in dieser Zeit nur so vor Selbstbewusstsein, waren die Protagonisten der Globalisierung doch davon überzeugt, mit den Werten des Westens der Welt Freiheit, Glück und Wohlstand für alle zu bringen. Ein dauerhaft hohes Wirtschaftswachstum sollte dafür sorgen, dass alle an den Wohlstandsgewinnen teilhaben.
Heute wissen wir, dass wir das Zeitalter der Geschichtslosigkeit noch lange nicht erreicht haben und dass der Westen für seine Überheblichkeit der 1990er-Jahre heute einen hohen Preis bezahlt. In Afghanistan ist der Versuch, ein westliches Wirtschafts- und Politikmodell einzuführen, genauso gescheitert wie im Irak. Und am Donnerstag, dem 24. Februar 2022, ist schließlich der russische Staatspräsident Wladimir Putin mit dem Einmarsch in die Ukraine in einen offenen Konflikt zum Westen gegangen. Mit diesem Krieg wurde allerdings auch offenbar, wie schwach die russische Armee tatsächlich aufgestellt ist und dass Russland unter Putin nicht zu den wirtschaftlichen Gewinnern der Neuordnung der Welt aufgestiegen ist.
Die Welt teilt sich neu. Auf der einen Seite steht wie zu Zeiten des Kalten Krieges der Westen. Westeuropa und Nordamerika sind trotz aller Unterschiede nach wie vor durch eine gemeinsame Sicht auf die Welt geeint, durch gemeinsame Werte, die auf den individuellen Freiheiten beruhen, wie die beiden Regionen sie zur Zeit der Aufklärung definiert haben. Der Westen ist zude