: Sylvia B. Barron
: Die Tochter des Zementbarons
: Brunnen Verlag Gießen
: 9783765576638
: 1
: CHF 14.20
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 368
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Blaubeuren 1914, der Erste Weltkrieg steht kurz bevor. Anna Kran, Tochter eines Zementwerkbesitzers und überzeugte Nationalistin, möchte einen Beitrag für ihr Vaterland leisten und Lazarettschwester werden. Doch ihr Vater traut ihr diese Arbeit nicht zu. In ihrem Eifer, ihn von ihrer Tatkraft zu überzeugen, fügt sie anderen Menschen unbewusst Leid zu. Erst ein verletzter Fremder, eine tragische Nachricht und Gott, der schon lange um ihr Herz wirbt, ändern ihre Sicht auf die Dinge.

Sylvia B. Barron hat Technische Redaktion studiert und arbeitet als Projektmanagerin bei einer Tageszeitung. Mit ihrem zweijährigen Sohn und ihrem Ehemann wohnt sie in Blaubeuren in einem Fachwerkhaus aus dem siebzehnten Jahrhundert, was sie immer wieder zum Schreiben inspiriert.

Kapitel 1


BLAUBEUREN, 29. JULI 1914

Der Turm aus gehäkelten Gardinen, geklöppelten Deckchen, gewebter Bettwäsche und bestickten Handtüchern auf Annas Armen schaukelte bedenklich.

Mutter hielt zwei Geschirrtücher in die Höhe, eines mit einem grünen Karomuster und das andere mit einem roten Linienmuster. „Welches findest du schöner?“

Anna presste ihr Kinn auf die zuoberst liegende Leinenschürze. „Mutti, du hast meine Aussteuer doch schon seit zwei Jahren beisammen.“ Dabei war sie noch nicht mal verlobt – aber diese Anmerkung schluckte sie mit zusammengebissenen Zähnen hinunter.

Die ganze Zugfahrt über hatte Mutter ihr die Ohren vollgejammert.„Nathanael hätte so eine tolle Partie abgegeben. So höflich und intelligent. So etwas findet man nicht häufig!“ Dabei hatte sie so oft den Kopf geschüttelt, dass ihr lavendelfarbenes Hütchen verrutscht war.„Und du bist doch schon zweiundzwanzig.“

Auch jetzt hingen ihre Mundwinkel in einem säuerlichen Zug herab.

Ein Seufzer entwich Anna und sie geriet unter der Last des Wäschebergs ins Schwanken. Rasch versuchte sie, ihn zu stabilisieren, aber die Leinenschürze war bereits auf das Parkett hinabgesegelt.

„Aufpassen, Madame!“ Mutter bückte sich nach dem heruntergefallenen Kleidungsstück und legte es wieder auf den Stapel in Annas Armen. „Also, welches findest du schöner?“, fragte sie mit Blick auf die Geschirrtücher und spitzte abwägend ihre Lippen.

Anna sah sich suchend nach ihrem Bruder Gerhard um, aber der lehnte an der Ladentheke und lächelte die Verkäuferin an.

„Das grüne“, entschied Anna und sah hilflos zu, wie Mutter das Tuch auf die Schürze legte.

„Warum nicht gleich“, murmelte Mutter und ihr Mund formte sich zu einem schmalen Strich.

„Können wir jetzt gehen? Mir fallen schon die Arme ab. Außerdem reicht der Firlefanz hier für drei Hochzeiten.“

„Liebes, bei der aktuellen politischen Lage weiß man nicht, wie lange man noch an diesen ‚Firlefanz‘ kommt. Und du heiratest mir nicht ohne eine vernünftige Aussteuer.“

„Ich heirate gar nicht!“ Zumindest noch nicht. Sie sähe sicher gut aus als Braut, im blütenweißen Kleid, mit Schleier und Blumen im Arm. Aber nur mit dem richtigen Mann am Altar, nicht mit Nathanael Klingenstein. Der kleine Brillenträger war ein kluger Kopf, ohne Frage. Doch dass er seinen Antrag per Brief aus dem fernen Berlin nach Blaubeuren geschickt hatte, sagte alles über ihn aus.

Wenn man mit ihm redete, benötigte er immer eine halbe Minute, bis er die passenden Worte gefunden hatte. So lange räusperte er sich und gab „mhm“-Laute von sich. Beim besten Willen konnte sie sich nicht vorstellen, ihn zu heiraten. Oder ihn zu küssen. Anna schüttelte sich. Ein Gefährte für ein langweiliges Leben.

„Weißt du eigentlich, in welche missliche Lage du mich gebracht hast? Ich musste seiner Mutter erklären, dass du ihn abgelehnt hast. Wir sind seit Jahren befreundet und das setzt du aufs Spiel.“

„Ach ja?“ Annas Finger krallten sich in den Stapel Aussteuerware. „Und du setzt mein Lebensglück aufs Spiel.“

„Ich bitte dich. Er ist gescheit, zuvorkommend, höflich und er wäre deinem Bruder im Zementwerk eine gute Hilfe gewesen.“ Mutter hielt schon die nächsten Geschirrtücher in der Hand.

Anna ließ den Stapel aus ihren Armen auf einen Auslagentisch fallen. „Weißt du was? Ich warte draußen. Dann kannst du in Ruhe weiter über meine Gardinen, Tischdecken und meinetwegen auch über meine Unterwäsche entscheiden.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und stieß die Glastür des Aussteuerwarenladens auf. Hinter sich hörte sie ihre Mutter scharf die Luft einsaugen, aber da war sie schon hinaus auf die Stuttgarter Königsstraße getreten.

Vor dem Laden lehnte sie sich an eine in die Fassade eingelassene rosagestrichene Ziersäule. Ein Seufzer drang aus ihrer Kehle und sie rieb sich die Stirn. Warum erwartete Mutter, dass sie Nathanaels Antrag akzeptierte? Ging es ihr nur um die Peinlichkeit der Situation mit seiner Mutter oder fürchtete sie, dass Anna niemanden mehr finden würde? Zweiundzwanzig war wirklich nicht alt. Oder doch? Langsam ließ sie ihre geballten Fäuste locker.

Auf der Straße spazierten Frauen in bunten Kleidern und kleinen Hütchen in Grüppchen nebeneinander und schwenkten ihre Körbe und Handtaschen.

Dazwischen eilten Herren in schwarzen Anzügen, die Schirme als Spazierstöcke trugen, obwohl die Julisonne vom Himmel strahlte. Annas Blick jagte zu der goldenen Uhr, die oberhalb eines Schmuckgeschäfts tickte.

Sie lockerte den blau gestreiften Matrosenkragen an ihrem weißen Jäckchen, das sie passend zu ihrem neuen Doppelrock mit den zwei übereinanderliegenden Schichten ausgesucht hatte. Die Jacke wurde von einem breiten Gürtel mit silberner Schnalle zusammengehalten und ihre blonden Locken zierte ein marineblaues Hütchen. Dazu noch eine doppelte Perlenkette, weiße Handschuhe und spitz zulaufende cremefarbene Schuhe – sie war perfekt gekleidet für den Bummel in der Stuttgarter Altstadt.

Hier achtete im Gegensatz zu Blaubeuren allerdings niemand auf sie. In der Großstadt waren alle mit sich selbst beschäftigt und fanden keine Zeit für einen Schwatz zwischendurch. Nur von einer Hausecke schräg gegenüber warf man ihr Blicke zu. Dort lümmelten ein paar Gestalten in geflickten Hosen und schwarzbefleckten Hemden. Sie sahen aus, als trügen sie die Kleidungsstücke Tag und Nacht am Leib. Der Einzige mit einer Jacke von den vieren starrte sie unverhohlen an.

Sein Kamerad wies auf die Schienen in der Mitte zwischen den Häusern, dann die Straße hinauf und danach auf eine Seitengasse. Seine Gesten waren zaghaft und sein Mund schmal beim Reden, als würde er versuchen, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die beiden anderen lauschten ihm mit verschränkten Armen. Die meisten Passanten strömten an den vieren vorüber, ohne sie zu bemerken, aber wer sich umsah, entdeckte sie sofort. Aus der wohlgekleideten bürgerlichen Menge stachen sie heraus wie braune Schmutzflecken auf weiß poliertem Marmor.

Anna erschauderte. Sie kannte solche Männer aus der Weilerstraße unterhalb ihres Hauses. Arbeiter, die immer den nächsten Aufstand planten und Kundgebungen im Sinn hatten.

Ein einzelner Straßenbahnwaggon, aus dessen fünf Fenstern gelangweilte Passagiere blickten, zuckelte vorüber und verdeckte ihre Sicht. Als er passiert war, waren die Männer verschwunden. Das ungute Gefühl in Annas Magengegend hatten sie nicht mitgenommen.

Ihr Bruder Gerhard schwang die Glastür auf und trat neben sie.

Anna lächelte. „Na, war die Verkäuferin nett?“

Der Siebzehnjährige grinste. „Nee, nichts für mich. Hat dauernd nur davon geredet, wie viel Angst sie vor den Franzosen hat. Als ob die uns was anhaben könnten.“

„Meinst du, es gibt wirklich Krieg?“

„Na klar! Als ob der Kaiser hinnimmt, dass mit unserem Bundesgenossen Österreich so umgesprungen wird. Die Serben können nicht davon ausgehen, dass man den Thronfolger ermorden kann, ohne dass das Konsequenzen hat.“

„Und dann werden uns die Russen und die Franzosen einheizen.“ Anna strich sich eine blonde Locke aus dem Gesicht. „Ich wünschte, ich könnte auch etwas gegen die drohende Gefahr tun. So wie du.“

Gerhard zuckte mit den Schultern.

„Du wirst dich doch freiwillig melden, oder?“ Anna legte eine Hand auf seinen Arm. Eigentlich war sein Einjährigenjahr, welches er statt der Dienstpflicht beim Militär ableisten wollte, erst nach seinem Abschluss geplant, aber in Anbetracht der Situation konnte er sein Vaterland nicht im Stich lassen, fand sie.

„Denke schon. Meine ganze Klasse hat es vor, nachdem uns der Lateinlehrer einen Vortrag über die Ehre des Militärs gehalten hat. Als jemand gefragt hat, ob man nicht lieber erst das Abitur machen solle, hat er ihn ausgeschimpft, ob er denn kein Pflichtgefühl habe.“

„Recht hat er. Und ich kann nur warten und hoffen. Es wird noch viel langweiliger werden ohne dich!“ Sie drückte seinen Arm.

„Du wirst schon Beschäftigung finden. Mutter wird dich auf Trab halten.“ Er grinste.

„Ich glaube kaum. Sie wird mich wegen des abgelehnten Heiratsantrags eingeschnappt ignorieren. Und Vater wird mich wie immer aus allem Geschäftlichen raushalten. Weil er nichts anderes im Kopf hat, bleibt mir nur noch die langweilige Hauswirtschaftsschule jeden Freitagvormittag.“ Sie deutete einen Würgereiz an.

Gerhard lachte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendetwas schmeckt, was du dort...