1. KAPITEL
Mit den Worten „Hier beginnt Privatbesitz, weiter fahre ich nicht“ hatte der Taxifahrer Hannah abgesetzt. Nun lag vor ihr eine Anhöhe, bewachsen mit Pinien. Zumindest gab es eine richtige Straße, das machte es leichter, den Koffer hinter sich her zu ziehen. Vom Meer wehte eine frische Brise heran, bewegte sanft die Baumspitzen und zupfte an ihren zu einem Zopf geflochtenen Haaren.
Obwohl es erst Anfang Mai war, herrschten auf Sizilien bereits sommerliche Temperaturen. Selbst das Shirt und die hellblaue Hose erschienen ihr nun zu warm. Zum Glück hatte sie genügend leichte Kleidung eingepackt.
Doch sie war nicht als Touristin hier, sondern zum Arbeiten. Noch konnte sie das Haus nicht sehen, aber laut Professor Gabriella Guscettis Beschreibung musste es direkt hinter den Bäumen liegen. Je näher sie kam, desto schneller schlug ihr Herz. Die Professorin arbeitete als Herzchirurgin in dem Krankenhaus, in dem auch Hannah tätig gewesen war, und hatte sie vorgewarnt, dass ihr Sohn Dr. Sergio Guscetti über ihr unerwartetes Erscheinen womöglich nicht erfreut sein würde. Vorsichtig hatte Hannah angemerkt, dass das nicht die besten Voraussetzungen für eine Therapie seien; sie konnte nur jemandem helfen, der sich auch helfen lassen wollte.
Doch davon hatte Gabriella Guscetti nichts hören wollen. Und das versprochene Honorar noch einmal erhöht. Das war vor einer Woche gewesen. Als Hannah die Adresse auf dem Vertrag las, hatte sie gestutzt. Der Name der Stadt klang Italienisch, und Professor Guscetti hatte bestätigt, dass sie in Sizilien in der Nähe von Palermo lag.
Auf ihre Frage, wieso ausgerechnet sie diesen Fall übernehmen sollte, hatte die Professorin nur gesagt, dass sie sehr viel Gutes über sie gehört habe und nur die beste Therapeutin für ihren Sohn wolle. Das Kompliment hatte sie verlegen und gleichzeitig auch ein wenig stolz gemacht.
Aber was sie wirklich dazu gebracht hatte, zuzusagen, war der Ausdruck im Gesicht der älteren Frau gewesen. Wenn sie von ihrem Sohn sprach, lag ein solcher Schmerz in ihrem Blick. Sie litt, weil er litt und sie ihm nicht zu helfen vermochte. Hannah hatte schlucken müssen. Normalerweise bewahrte sie stets eine professionelle Distanz zu ihren Patienten und deren Angehörigen, aber in diesem Fall fiel ihr das schwer. Sie konnte gut verstehen, wie Professor Guscetti sich fühlte, auch wenn ihre eigene Situation damals etwas anders gewesen war. Die Professorin setzte all ihre Hoffnungen in sie. Das machte die vor ihr liegende Aufgabe nicht einfacher.
Endlich oben auf dem Hügel angekommen, musste Hannah erst einmal Atem schöpfen. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Stirn und hoffte, noch einigermaßen frisch auszusehen. Aber gleich würde sie sich sicher ausruhen und etwas Kühles trinken können.
Ihr Blick wanderte über den weißen Steinbau. Es handelte sich offensichtlich um ein Familiendomizil: zweistöckig und mit einem ausladenden Seitenflügel. Mehrere der vielen Fenster standen auf Kipp. Links von ihr plätscherte ein Springbrunnen. Steinerne Engelsfiguren ließen Wasser durch ihre Hände fließen. In Kugelform geschnittene Buchsbäume standen neben der niedrigen Treppe zum Eingang.
An der Haustür befand sich ein schwerer Messingklopfer in Form eines Löwenkopfes. Hannah betätigte ihn und wartete. Als nichts geschah, klopfte sie erneut und hielt Ausschau nach einem Klingelknopf. Doch den gab es offensichtlich nicht.
Sie trat einige Schritte von der Tür zurück. „Hallo?“, rief sie laut.
Nichts rührte sich. Die Tür blieb verschlossen.
Hannah seufzte und setzte sich auf ihren Koffer. War Dr. Guscetti vielleicht gerade unterwegs? Aber seine Mutter hatte doch gesagt, dass er das Haus überhaupt nicht verließ. Folglich musste er daheim sein.
„Hallo!“, rief Hannah erneut und diesmal noch lauter. Heiß brannte ihr die Sonne auf den Kopf. Sie sehnte sich nach einem großen Gla