1. KAPITEL
Seit dem frühen Morgen hatte der Schmerz in Lisa Balfours rechter Bauchseite rumort, aber jetzt wurde er immer stärker. Es fühlte sich an, als ob ihr jemand mit einer glühenden Nadel Stiche versetzte. Musste das ausgerechnet bei ihrem Vorstellungsgespräch passieren? Sie hatte sich als kompetent, selbstbewusst und gescheit präsentieren wollen, sodass Dr. Ronan Gillespie gar keine Wahl blieb, als sie für seine Praxis zu engagieren. Stattdessen versuchte sie, den ziehenden Schmerz zu unterdrücken, während sie sich vorbeugte, um seine Fragen besser zu verstehen.
„Warum haben Sie sich für den Job hier in Arrandale beworben?“ Dr. Gillespie sprach mit einem leichten schottischen Akzent. Er blätterte in Lisas Bewerbungsunterlagen. „Sie waren zuletzt in einer viel größeren Praxis in einer Großstadt tätig. Warum wollen Sie unbedingt in einer kleinen Praxis in einer ländlichen Kleinstadt arbeiten? In der Umgebung von Arrandale gibt es außerdem einige größere medizinische Zentren, die ständig neue Mitarbeiter suchen.“
Lisa atmete tief ein. „Mir gefällt die Vorstellung, vielleicht als Partner in eine kleine Praxis wie diese einzutreten. Ich hatte solch einen Wechsel schon längere Zeit vor.“
Das war eine glatte Untertreibung. In Wirklichkeit hatte sie verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht, so rasch wie möglich aus Grangeford wegzukommen. „Meine Mutter stammt aus Arrandale und hat mir oft vorgeschwärmt, wie sehr sie das Städtchen gemocht hat. Leider ist sie nie wieder hergekommen, seit sie damals nach Südengland zog. Als sie starb, dachte ich, es sei eine gute Idee, mich in ihrer Heimstadt niederzulassen.“
Auch das war nur die halbe Wahrheit. Lisa hatte jedoch nicht die Absicht, Dr. Gillespie den tatsächlichen Grund dafür zu nennen, warum sie sich diese abgelegene Gegend ausgesucht hatte. Das war viel zu persönlich und ging nur sie selbst etwas an.
Ihr Gegenüber musterte sie mit höflichem Interesse. „Ihre Mutter ist also nie mit Ihnen hier gewesen, um Ihnen zu zeigen, wo sie ihre Kindheit verbracht hat?“
„Nein, meine Mutter hatte ihre Gründe, warum sie die Vergangenheit ruhen lassen wollte.“ Und das war auch mehr als verständlich, dachte Lisa traurig. „Nach ihrem Tod wollte ich den Ort, an dem sie ihre Kindheit verbracht hat, unbedingt kennenlernen.“
„Offensichtlich haben Sie eine schwere Zeit durchgemacht“, erwiderte er ruhig. „Aber wenn es Ihnen mit einem Neuanfang Ernst ist, dann haben Sie sich den richtigen Ort ausgesucht. Die Gegend um Arrandale ist wirklich wunderschön – ich möchte behaupten, sie kann mit anderen berühmteren Landstrichen auf der Welt mithalten.“
„Ja, es scheint hier wirklich sehr angenehm und ruhig zu sein“, nickte Lisa. „In Grangeford war es meist laut und hektisch.“
Überrascht runzelte Dr. Gillespie die Stirn. „Es ist hier vielleicht nicht ganz so ruhig und geruhsam, wie Sie es sich vorstellen. Ich kann Ihnen versichern, wir haben hier die gleichen Probleme wie in größeren Städten, vielleicht nur nicht so häufig. Es gibt auch hier Drogen- und Alkoholprobleme, wie überall. Das hier ist keine Idylle. Wenn Sie also nach einem beschaulichen Job suchen, dann ist das nicht der richtige Platz dafür.“
„Ich habe natürlich nicht gemeint, dass ich glaube, die Arbeit hier sei leichter“, beeilte sich Lisa zu versichern. Sie hatte den kritischen Unterton in seinen Worten schon verstanden. „Außerdem bin ich lange und harte Arbeitszeiten gewöhnt.“
Er nickte, ohne weiter darauf einzugehen. Verdammt, dachte sie, jetzt hat er gleich einen falschen Eindruck von mir gewonnen. Dabei war genau das Gegenteil der Fall – sie wollte sich voll und ganz auf den Job konzentrieren, den sie über alles liebte, und dabei die Erlebnisse vergessen, vor denen sie aus Grangeford geflüchtet war.
„Sie müssen wissen“, fuhr Dr. Gillespie fort, „dass mein Partner Terry Newman für längere Zeit ausfallen wird. Er hat sich im Skiurlaub ein Bei