: Luisa L'Audace
: Behindert und stolz Warum meine Identität politisch ist und Ableismus uns alle etwas angeht
: Eden Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
: 9783959104074
: 1
: CHF 13.90
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: Gesellschaft
: German
: 240
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Luisa L'Audace wächst als einziges behindertes Kind in ihrem Heimatdorf auf. Warum sie im Sportunterricht immer als Letzte gewählt wird, in der Pause nicht mitspielen soll und ihre Freundinnen plötzlich nicht mehr neben ihr sitzen wollen, versteht sie lange Zeit nicht. Während andere Kinder Freizeitbeschäftigungen nachgehen, verbringt Luisa viel Zeit in Krankenhäusern, bei Therapien und Spezialist*innen. Als sie mit 14 einen Rollstuhl bekommt, fühlt sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben frei. Doch mit der neu gewonnenen Mobilität nehmen auch die Anfeindungen zu. Die Ursache dafür kann sie erst viele Jahre später klar benennen: Ableismus, also die strukturelle Diskriminierung behinderter und chronisch kranker Menschen. Wir alle leben in einem ableistischen System, das aktiv Teilhabe verhindert. Auch im 21. Jahrhundert müssen behinderte Menschen noch um ihre Rechte kämpfen und sind Gewalt ausgesetzt. Luisa L'Audace erklärt, warum Ableismus uns alle etwas angeht, wie wir ihn aktiv verlernen und zu einer inklusiven Gesellschaft werden können. Denn eins ist klar: Die Verantwortung liegt bei uns allen.

Luisa L'Audace, geboren 1996, ist behinderte und queere Aktivistin und Beraterin für Inklusion und Antidiskriminierung. Durch ihre Aufklärungsarbeit, die größtenteils auf Social Media stattfindet, hat sie maßgeblich dazu beigetragen, dass sich der Begriff »Ableismus« auch in der deutschen Sprache immer mehr etabliert. Ihr Anliegen ist, die Diskriminierung behinderter und chronisch kranker Menschen nicht länger als ein individuelles Problem, sondern viel mehr als ein strukturelles Problem zu erfassen, das uns alle etwas angeht. Seit 2021 ist sie außerdem Mitbegründerin der Empowerment-Plattform »Angry Cripples«.

Born this way


Als ich noch klein war, dauerte es eine ganze Weile, bis ich verstand, dass ich mich durch gewisse Dinge von den Kindern in meinem Umfeld abhob. Und noch viel länger dauerte es, bis ich verstand, dass ich weder Einfluss auf diese Unterschiede hatte noch, dass sie meinen Wert als Menschen ausmachen.

Ich wuchs in einem kleinen Dorf in Hessen auf, in dem ich das einzige behinderte Kind war. Ich wusste nicht, woran es lag, aber von klein auf war da so ein Gefühl, als hätten alle Menschen um mich herum eine Bedienungsanleitung für ihr Leben erhalten und als wäre nur meine irgendwo verloren gegangen, bevor ich sie hatte lesen können. Doch obwohl sich mein Leben in einigen Bereichen von dem der anderen Kinder unterschied, konnte ich einfach nicht benennen, was der Grund dafür war, und vergrub dieses Gefühl tief in mir drin. Ich kann mich noch sehr genau an den Tag erinnern, an dem ich in meinem Kinderzimmer vor dem Hochbett mit der Rutsche stand, während meine Mama vor mir kniete und sagte: »Morgen bekommst du dein erstes Korsett angepasst.«

Ich war damals vier Jahre alt, und man hätte mir wahrscheinlich genauso gut erklären können, dass ich morgen einen Porsche bekommen würde. Das hätte ich vermutlich genauso wenig verstanden. Also fragte ich einfach nur neugierig: »Ein Korsett?«

»Ja, das soll dir helfen, damit dein Rücken wieder gerade wird«, erwiderte sie. Ich spüre ihre Hände heute noch auf meinen Rippen, wie sie – auf meine Frage, wie sich das wohl anfühlen würde – meinen Oberkörper vorsichtig in eine aufrechtere Position schob. Doch im Gegensatz zu ihren warmen Händen erwartete mich ein paar Wochen später eine kalte Plastikschale, die mich vom Schlüsselbein bis zur Hüfte einengte und die ich von nun an acht Jahre lang 23 Stunden am Tag tragen würde. Zugegeben, manchmal waren es nur um die 15 Stunden, denn im Alter von acht oder neun Jahren hatte ich den Dreh raus, wie ich mich nachts heimlich aus dem unbequemen und unnachgiebigen Negativabdruck meines Oberkörpers herausschälen konnte. Kurz bevor der Wecker klingelte, zwängte ich mich dann wieder zurück in dieses ungeliebte Objekt. Ich hatte nicht genug Kraft in meinen kleinen Händen, um die unnachgiebigen Plastikschnallen zu verschließen, die die Gurte mit Klettverschluss festhielten und sicherstellten, dass sie sich um keinen Zentimeter lockerten. Um dennoch nicht aufzufliegen, entwickelte ich eine Taktik. Ich nahm zwei oder drei Schritte Anlauf und warf mich mitsamt dem Korsett leicht, aber gezielt gegen die Wand, sodass die Schnallen beim Aufprall zwischen dem harten Plastik des Korsetts und der Raufasertapete meines Kinderzimmers zusammengedrückt wurden und gar keine andere Chance mehr hatten, als endlich nachzugeben und einzurasten.

Es waren besonders jene Schnallen sowie die obere Kante des Korsetts, die mich bereits früh störten, standen sie doch immer etwas hervor und zeichneten sich durch so gut wie jedes T-Shirt deutlich ab. Was mir aber noch deutlich mehr zu schaffen machte, waren die Kinder im Kindergarten sowie der Grundschule, die manchmal sanft, manchmal weniger sanft auf meinem Bauch herumtrommelten und fragten: »Na? Trägst du wieder deinen Panzer?« Oder: »Bist du etwa eine Schildkröte?« Für manche Kinder in meiner Schule gehörte der Knuff in meinen Bauch regelrecht zur Begrüßung dazu. In den seltenen Fällen, in denen ich das Korsett wegen Druckstellen oder besonderen Anlässen zu Hause lassen durfte, landeten ihre Fäuste ungebremst in meiner Magengrube.

Vermutlich gehörten diese kleinen, aber doch so gewaltvollen Gesten zu den frühesten Diskriminierungserfahrungen, an die ich mich aktiv erinnern kann. Dabei waren es sicherlich nicht die ersten. Ich hatte die abfälligen und bewertenden Blicke schließlich auch schon gespürt, als meine Mutter mich im Kinderwagen durch die Stadt geschoben hatte, während andere Kinder in meinem Alter bereits ausgelassen neben ihren Eltern herumhüpften und sie am Arm zogen, weil es ihnen nicht schnell genug gehen konnte. Ich hatte diese Blicke damals nur nie deuten können. In den Neunzigern und frühen Zweitausendern war es einfach noch nicht so üblich gewesen, Kleinkindern einen Rollstuhl anzupassen, wenn diese in ihrer Mobilität eingeschränkt waren. Es gab diese Mögli