Kapitel 2
Sie ritten durch ein Gewirr von Straßen und Gäßchen, die immer enger und armseliger wurden, bis sie den Fluß erreichten. Octavia kam alles wie ein Alptraum vor. Einen kurzen, verzweifelten Augenblick lang hatte sie überlegt, ob sie vom Pferd springen sollte. Aber der holprige und glitschige Boden tief unter ihr und der stahlharte Griff, mit dem Lord Nick sie gepackt hielt, ließen jeden Gedanken an eine Flucht absurd erscheinen. Es geschah oft, daß Frauen von der Straße weg, manchmal sogar aus ihrem eigenen Hause entführt wurden, aber meist waren es reiche Witwen oder junge Erbinnen, die auf diese Weise in die Ehe gezwungen werden sollten. Sie selbst war weder reich noch hatte sie ein Erbe zu erwarten. Hatte der Straßenräuber also nur vor, sie zu vergewaltigen?
»Was wollen Sie von mir?« fragte sie. »Was für ein Interesse haben Sie an einem ganz gewöhnlichen Taschendieb?«
»Nein, einem ganz und garungewöhnlichen Taschendieb«, verbesserte er sie in seinem üblichen amüsierten Ton. »Einem schönen, gebildeten, elegant gekleideten und höchst kunstfertigen Taschendieb. Die Idee mit der gespielten Ohnmacht war wirklich genial. Erst bestehlen Sie Ihr Opfer, und dann benutzen Sie es noch, Ihnen zur Flucht vom Tatort zu verhelfen.« Er lachte lauthals. »Für was für einen Tölpel müssen Sie mich gehalten haben!«
»Sie wollen sich also nur an mir rächen«, überlegte sie laut, obwohl seine Worte nicht sonderlich rachelüstern klangen. »Was wollen Sie mit mir anstellen? Vergewaltigen? Ausrauben? Umbringen?«
»Was haben Sie für eine blühende Phantasie, Miß Morgan! Frauen zu vergewaltigen hat mich nie interessiert.« Er schmunzelte. »Und auf die Gefahr hin, daß Sie mich für einen Aufschneider halten – bisher hatte ich es auch noch nicht nötig.«
Octavia wußte nichts darauf zu antworten, da ihr seine Erklärung durchaus plausibel erschien. Denn trotz ihrer Wut und Angst mußte sie zugeben, daß dieser Straßenräuber verdammt attraktiv aussah.
»Andererseits«, wandte er bedächtig ein, »wenn Sie die Idee so reizt, dann denke ich, können wir es so einrichten, daß wir beide unseren Spaß dabei haben.«
Was für eine Unverschämtheit! Mit erhobener Hand fuhr Octavia im Sattel herum, um mit einer schallenden Ohrfeige das anzügliche Grinsen aus seinem Gesicht zu wischen.
Doch diesmal kam er ihr zuvor. Noch ehe sie ihn treffen konnte, hatte er den Schlag abgefangen und ihre Faust mit Gewalt wieder in den Schoß gedrückt. »Ihnen scheint die Hand ein wenig zu schnell auszurutschen, Miß Morgan«, stieß er gefährlich leise hervor. »Ich habe Ihre Attacke von heute früh nicht vergessen, und so leid es mir tut, ich werde dafür Vergeltung fordern müssen.« Jedes Lächeln war auf seinem Gesicht erstorben, und seine Augen blickten grau und kalt. »Ich reagiere höchst empfindlich auf körperliche Angriffe, Miß Morgan. Merken Sie sich das.«
»Sie provozieren sie ja!« konterte sie, bleich vor Wut. »Heute morgen wollten Sie mich nicht loslassen, und gerade eben haben Sie mich beleidigt!«
»Ich bitte um Verzeihung, ich hatte nicht vor, Sie zu beleidigen«, erwiderte er mit einem achtlosen Achselzucken, ohne den eisernen Griff um ihr Handgelenk zu lösen. »Wir sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, meine Liebe. Ich könnte mir vorstellen, daß wir beide unter entsprechenden Umständen die helle Freude aneinander haben könnten.«
»Arroganter, aufgeblasener Köter!« zischte sie. Was für eine Demütigung, nur seine Zunge als Waffe einsetzen zu können!
»Ja, so hat mich schon manch einer genannt«, antwortete der Straßenräuber ungerührt. »Aber wenn Sie verzeihen – dieses Gespräch beginnt mich zu langweilen, und wenn ich mich nicht irre, reiten wir außerdem geradewegs in einen Schneesturm hinein. Deshalb schlage ich vor, daß Sie Ihr freches Mundwerk halten, bis wir im Trockenen sitzen.«
Das Wetter hatte sich verschlechtert. Schwarze Wolken waren am Horizont aufgezogen. Als sie über die Westminster Bridge ritten, peitschte ihnen der tückische Wind Schwaden eisigen Schnees ins Gesicht. Die wenigen Passanten, denen sie begegneten, stemmten sich mit gesenktem Kopf gegen den Wind, den Umhang eng um die Schultern geschlungen.
In schnellem Galopp passierten sie das Dorf Battersea, in dem man die Türen dicht verrammelt hatte. Als sie an einem Gasthof vorbeikamen, warf Octavia einen sehnsüchtigen Blick auf den anheimelnden Rauch, der aus den schmalen Schornsteinen stieg, doch der Straßenräuber hatte offenbar ein festes Ziel vor Augen und keine Zeit einzukehren. Langsam erreichten sie das offene Land. Die Häuser standen immer vereinzelter, kleine Weiler duckten sich in den Schnee. Sie wirkten wie ausgestorben, nur ein paar räudige Straßenhunde kauerten in den engen Gassen. Octavia dachte an ihren Vater. Ob er sich wohl Sorgen um sie machte, daheim in ihrem möblierten Zimmer in der Weaver Street? Sicher nahm er an, daß sie irgendwo Schutz vor dem Schne