1 Der Tag
Eberswalde-Finow
Der 6. April 1966 ist ein Mittwoch und beginnt auf dem Luftwaffenstützpunkt der Roten Armee in Finow wie viele andere Tage. Es ist bewölkt, ab und zu regnet es. Gegen acht Uhr morgens schrillt Alarm und Hauptmann Boris Kapustin läuft zum Hangar. Gegen elf Uhr steht er in voller Ausrüstung wieder vor seiner Frau. Fehlalarm. Das ist nichts Ungewöhnliches, oft gibt es sogar mitten in der Nacht Alarm oder er muss aus einem anderen Grund nachts arbeiten. »Ich lege mich noch ein bisschen hin«, sagt Boris zu Galina. Flieger und Seeleute können immer schlafen, das lernt man in jeder Armee der Welt. Boris Kapustin geht in das verdunkelte Schlafzimmer, seine Frau pflanzt Blumen. Vor dem Haus haben die beiden ein kleines Beet angelegt. Auf einem Bänkchen neben der Haustür döst eine Katze. Wenige Minuten später steht ihr Mann wieder vor Galina. Sein sonst sorgsam nach hinten frisiertes Haar ist zerzaust. »Ich kann nicht schlafen, Galinuschka, gibt es irgendetwas, das ich tun kann? Kann ich dir helfen?« Die Katze rekelt sich, springt vom Bänkchen, streicht Kapustin lautlos um die Beine.
»Ich bin gleich fertig mit dem Pflanzen, Borja. Aber bald kommt der Mai, wir müssen Fenster putzen. Ich glaube, es regnet heute nicht mehr, lass uns den Winterdreck abschrubben.«
»Mit Vergnügen«, sagt der Pilot. Er geht ins Bad, erfrischt sich, kämmt sein Haar. Irgendwie verspürt er an diesem Tag keine Lust zu fliegen. Das ist eher ungewöhnlich. Seit Beginn seiner Ausbildung hat er mehr als tausend Flugstunden absolviert und alles dafür getan, sich zum »Militärflieger erster Klasse« zu qualifizieren.
Seine Frau reicht ihm Putzmittel. »Mach bitte diese Seite, die andere ist schon fertig.«
Als hätte er das nicht gesehen. Und so steht Hauptmann Boris Kapustin auf der Leiter und putzt an einem Mittwochvormittag Fenster. Es ist sein letztes Jahr in der Westgruppe der Roten Armee, in wenigen Wochen soll er mit Frau und Sohn in die Sowjetunion zurückkehren.
»Es ist so schön hier. Freust du dich auf zu Hause?«, fragt er Galina.
»Ja, irgendwie schon.«
»So gut wie hier werden wir es nicht mehr haben, Galinuschka.«
»Ich weiß.«
Sie leben für sowjetische Verhältnisse privilegiert. Der Dienst in der Westgruppe in Deutschland ist um einiges luxuriöser als an anderen Orten, und die Offiziere dürfen im Unterschied zu den einfachen Soldaten ihre Familien mitnehmen. Die Kapustins haben es besonders gut getroffen.
In Finow, einem ruhigen, fast idyllischen Städtchen nahe Eberswalde, leben sie im Erdgeschoss einer Doppelhaushälfte in einer Fliegersiedlung am Ortsrand. In der Etage über ihnen ist technisches Personal des Luftwaffenstützpunkts untergebracht.
Die kleinen Häuser in den ruhigen Anliegerstraßen wurden vor dem Zweiten Weltkrieg für Arbeiter und ihre Familien gebaut. Die sowjetische Armee hat sie nach dem Krieg beschlagnahmt. In den Gärten wachsen Apfelbäume. Das Schlafzimmer ist zwar k