: André Frank Zimpel
: Trisomie 21 - Was wir von Menschen mit Down-Syndrom lernen können 2000 Personen und ihre neuropsychologischen Befunde
: Vandenhoeck& Ruprecht Unipress
: 9783647996486
: 1
: CHF 18.10
:
: Allgemeines, Lexika
: German
: 222
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Menschen mit Trisomie 21 erschließen sich Dinge anders als Menschen ohne diese genetische Abweichung. Sie neigen verstärkt dazu, von Einzelheiten abzusehen. Sie sind deshalb auf geeignete Abstraktionen (Buchstaben, Gebärden, mathematische Symbole usw.) mehr angewiesen als andere Personen. Der anschauungsgebundene, kleinschrittige und Abstraktionen vermeidende Unterricht an Förderschulen trägt diesen neuropsychologischen Besonderheiten nur wenig Rechnung und wirkt eher kontraproduktiv. Gleiches gilt für die vorhandenen Lehr- und Lernmethoden, die solche Aufmerksamkeitsbesonderheiten bislang nur unzureichend berücksichtigen. Sie müssen überdacht werden, um weiter auszubauen, was bisher nur in Aufsehen erregenden Einzelfällen gelingt: normale Ausbildungsgänge für Menschen mit Trisomie 21 bis hin zum Universitätsabschluss. André Frank Zimpel fasst auf Basis einer groß angelegten Studie mit 1294 Teilnehmern zusammen, was heute als gesicherter Befund gelten kann und welche Konsequenzen unser Bildungssystem daraus zu ziehen hat.

Dr. André Frank Zimpel ist Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Förderschwerpunktes Geistige Entwicklung und mit dem Forschungsschwerpunkt Rehabilitationspsychologische Diagnostik an der Universität Hamburg.

I. Gene und Gesellschaft

Eine kognitive Revolution im Stillen

In den letzten Jahrzehnten fand eine kognitive Revolution statt, die von den meisten Menschen verschlafen wurde: Die ersten Persönlichkeiten mit einer Trisomie 21 fassten auf dem Arbeitsmarkt Fuß, und einige von ihnen haben sogar Universitätsabschlüsse.

Was bedeuten Buchstaben und Algebra für die geistige Entwicklung von Menschen mit Trisomie 21? Als ich diese Forschungsfrage erstmalig präsentierte, war die Resonanz nicht nur positiv:

»Die Downies sind doch unser geringstes Problem bei der Inklusion. Die sind pflegeleicht und laufen einfach so mit, wenn man ihnen eine Beschäftigung gibt. Wir brauchen Forschung, die uns bei verhaltensoriginellen oder schwerstbehinderten Kindern hilft. Die sind das eigentliche Problem!«

Auch innerhalb der Universität und bei Anträgen auf Drittmittel für die Forschung wurde immer wieder gefragt: »Lohnt sich Forschung für eine so kleine Minderheit überhaupt? Die Forschung, die wir fördern, soll vielen zugutekommen und nachhaltig sein.«

Was ist unter Nachhaltigkeit zu verstehen? Dem Duden zufolge bezeichnet der aus der Forstwissenschaft stammende Begriff »Nachhaltigkeit« eine Wirkung, die längere Zeit anhält.

Aber gibt es nicht viele lang anhaltende Wirkungen, die man kaum als nachhaltig bezeichnen würde? Beispiele: die Auswirkungen eines schwerwiegenden Unfalls oder einer langwierigen Erkrankung infolge einer Infektion.

Betrachten wir also eine andere Definition. Sie klingt im ersten Moment wie ein Kontrapunkt zum Duden: »[…] Nachhaltigkeit bedeutet nichts anderes, als keine Handlungen zu vollziehen, deren Folgen nicht mehr zurückgenommen werden können.«1 Diese Definition findet man auf der Internetseite des Kompetenzzentrums für Nachhaltigkeit der Uni Hamburg.

Als Erklärung dieser Definition drängt sich mir eine Erzählung auf. Sie stammt von Stanislaw Lem (1921–2006), dem Lieblings-Science-Fiction-Autor meiner Kindheit: Ein Raumfahrer landet auf einem Wüstenplaneten, wo auf einmal alles unter Wasser steht. Ein Ingenieurs-Team hatte eine Methode entwickelt, Wasser synthetisch zu erzeugen, und so den ganzen ehemaligen Wüstenplanet in eine blühende Gartenlandschaft verwandelt. Der Duden-Definition zufolge ist das eine nachhaltige Wohltat, vergleichbar mit Aufforstung auf unserem Planeten.

Das Problem war nun, dass niemand diese Wohltäter mehr brauchte – also entwickelten sie sich zu einer Wohltätermafia. Sie verbreiteten die Ideologie, das ständige Waten im Wasser sei gesundheitsfördernd. Wer widersprach, landete im Gefängnis. So durften sie weiter bewässern – bis dem Volk auf diesem Planeten sprichwörtlich das Wasser bis zum Halse stand.2

Wirklich nachhaltig wäre es gewesen, wenn man diese Wohltätermafia rechtzeitig gebremst hätte. Aber dem Planeten fehlte eben ein Kompetenzzentrum für Nachhaltigkeit, wie wir es an der Uni Hamburg haben.

Gut gemeint

Ist eine solche »Wohltätermafia« nur Science-Fiction? Nein, die menschliche Geschichte ist voll von Glücksversprechen für die Menschheit, die in Wirklichkeit nur dazu da waren, eine Wohltätermafia mit mächtigen Posten zu versorgen und deren Kassen zu füllen.

Besonders dramatisch ist es, wenn sich die Akteure dessen nicht einmal bewusst sind, wenn sie es eigentlich gut meinen. Ein historisches Beispiel dafür ist die Medizin des 19. Jahrhunderts. Vor der Einführung strenger hygienischer Maßnahmen in Kliniken war es unüblich zu desinfizieren. Das galt sowohl für medizinische Instrumente als auch das medizinische Personal selbst.

Mit dem Nachweis von Viren und Bakterien mussten sich die »Götter in Weiß« eingestehen