Die Jahre vor der Politik: 1916 1946
Kindheit und Jugend
Mitterrand schreibt in seinen fragmentarischen Erinnerungen, ein Mensch, der die fünfzig erreicht und überschritten habe, sei ein Ergebnis der Erfahrungen, die er gemacht hat. Herkunft, Kindheit und Jugend bestimmen zwar nicht das spätere Leben, beeinflussen es aber. Der erwachsene Mensch ist nicht nur, aber auch das, was die Erfahrungen von Kindheit und Jugend an aus ihm gemacht haben.1 Doch: Der Mensch neigt dazu, eine Geschichte zu erfinden, die er für sein Leben hält dieser Ausspruch von Max Frisch gilt insbesondere auch für François Mitterrand.
Als François Maurice Adrien Marie Mitterrand am 26. Oktober 1916 in der Kleinstadt Jarnac im südwestfranzösischen Departement Charente als fünftes von acht Kindern geboren wurde, wurde ihm das Parteibuch der sozialistischen Partei nicht in die Wiege gelegt. Geprägt wurde der junge Mitterrand durch das ländliche Frankreich und das bürgerlich-katholische Milieu Die Familie lebte in Angoulême, dem Hauptort (etwa 40.000 Einwohner) des Departements, wo der Vater seit Anfang des Jahres 1916 Bahnhofsvorsteher war. Als Mitterrands Großvater mütterlicherseits 1919 einen Nachfolger für die Leitung seiner Essigfabrik suchte, übernahm Mitterrands Vater sie. Die Familie zog nach Jarnac, in ein Haus neben dem der Großeltern. Auch später war er noch oft in Jarnac, er hing sehr an seinem Elternhaus. Im Großplakat für seine Wahl zum Staatspräsidenten 1981 mit einem kleinen Dorf mit Kirchturm vor seinem Porträt im Großformat kann man noch einen Hinweis auf seine Herkunft sehen.
Mitterrand wuchs in einer Familie auf, die zur bürgerlichen Mittelschicht gehörte der Vater zählte zu den Provinznotabeln.2 Die industrielle Welt, das proletarische Milieu und soziale Probleme kannte er nicht. Dieses Milieu blieb ihm zeitlebens fremd. In der Region bildeten die meist protestantischen Cognac-Fabrikanten die Oberschicht. Die Mitterrands waren Essighändler der Vater erbte den großväterlichen Betrieb. Die Familie hatte zwar keine Sympathien für das Proletariat, aber den Reichen (les gros) begegnete sie mit Abneigung. Umgekehrt blickte die Oberschicht auf Essighändler eher herab. Mitterrand sei Zeit seines Lebens einvinaigrier (Essighändler) gewesen, berichtet einer seiner Jugendfreunde.3
Nicht eine sozialrevolutionäre Ideologie hat Mitterrands Kindheit und Jugend beeinflusst, sondern der sozial akzentuierte Katholizismus. In seinem Elternhaus wurde die katholische Religion sehr strikt praktiziert. Mitterrands Mutter ging täglich um sechs Uhr morgens zur Messe und betete in der Familie regelmäßig mit den acht Kindern. Am sonntäglichen Kirchgang mit Empfang der Kommunion nahm die gesamte Familie teil. Der Pfarrer kam sonntags zum Mittagessen. Der Vater, Mitglied des Gemeinderats, galt als eine der Säulen der GesellschaftSaint-Vincent-de-Paul, einer karitativen katholischen Organisation. Er war Vorsitzender des Verbandes der freien , d. h. katholischen Schulen der Charente und der regionalen Organisation der konservativ-katholischen und betont nationalenFédération nationale catholique. Mitterrand selbst wurde von den protestantischen Mitschülern als kleiner Pfaffe (calotin) gehänselt. Noch als Student in Paris war er ein gläubiger und praktizierender Katholik. Auch als Soldat betete Mitterrand regelmäßig seinem Freund Georges Dayan schreibt er aus der Kriegsgefangenschaft, seine Gebete hätten geholfen, dass er überlebt habe.4 Am Ende seines Lebens erklärt er auf die Frage hin, ob er eine religiöse Erziehung gehabt habe, er »badete in diesem Klima«, er habe eine »religiöse Natur«.5 Auch später, als er sich vom Glauben und von der Kirche entfernt hatte, nannte er sich nie einen Atheisten, sondern einen Agnostiker.
Obwohl die Sehnsucht nach der Monarchie damals im konservativen katholischen Milieu noch lebendig war, war Mitterrands Familie republikanisch. Ein Bruder der Mutter gehörte zu den Gründern desSillon, einer 1899 gegründeten religiös-politischen Bewegung, die die katholische Kirche zur Gesellschaft öffnen wollte und eine Aussöhnung mit der Republik anstrebte.
Mitterrand beschreibt seinen Vater als kalt, er habe kaum gesprochen.6 Wegen der umfassenden Engagements hatte er nur wenig Zeit für die Familie und die Kinder fanden keine enge Beziehung zu ihm. Mitterrand schildert ihn als jemanden, der sich gegen die Hierarchien auflehnte, Privilegien verachtete, aber die auf dem katholischen Glauben begründete Ordnung respektierte. Der Einfluss der Mutter, die bereits 1936 mit nur 58 Jahren starb, war stärker. Von ihr dürfte François seine frühe Neigung zum Lesen und sein Interesse für Literatur übernommen haben. Um ihre kulturelle Bildung besorgt, abonnierte sie für ihre Kinder dieNouvelle Revue Française, damals die wichtigste literarische Zeitschrift Frankreichs.
Mitterrand erinnert sich, dass sie sich als Kinder einer großen Freiheit erfreuten. Seine Eltern hätten keine »blinde Autorität« gefordert, wohl aber ihm »eine Disziplin für das Leben eingeprägt«.7 Er sei ein schüchternes, verschlossenes, nicht besonders fröhliches Kind gewesen. Er habe nicht das Bedürfnis gehabt, sich anderen Menschen anzuvertrauen. Diesen Charakterzug habe er auch als Erwachsener behalten. Eine Neigung zur Revolte habe er nicht verspürt. Seine Kindheit sei glücklich gewesen; er habe aus ihr seine Kraftreserven geschöpft.
Nach der Übernahme der Essigfabrik wurde die Familie so wohlhabend, dass François 1926 in das von Priestern geleitete Internat Saint-Paul in Angoulême geschickt werden konnte. Es sei für ihn ein einschneidender Wandel gewesen, aber er habe sich gegen die dort praktizierte strenge Disziplin nicht aufgelehnt. In seiner Freizeit las er viel, vor allem zeitgenössische französische, oft politisch rechts stehende Romanciers (u. a. Maurice Barrès, Jacques Chardonne, François Mauriac). In Gesprächen mit seinen Mitschülern interessierte ihn vor allem die Literatur und weniger die Politik. Wie schon in der Großfamilie zeigte Mitterrand auch in der Schule eine Neigung zum Einzelgänger.8 Er war eher kontaktarm und introvertiert als offen und kommunikativ. Es ist bezeichnend, dass er selbst beim Fußball die Position einnahm, die am wenigsten Einordnung in die Mannschaft verlangte: Torwart. Gleichwohl gewann er in der Schule in Angoulême einige Freunde, die ihm zeitlebens eng verbunden blieben. Mitterrand war ein guter Schüler. Seine Lieblingsfächer waren Französisch, Geschichte und Religion, während er in Mathematik nur mittelmäßig war und für Englisch keine große Begeisterung zeigte. Auch die Ferienaufenthalte in England gefielen ihm nicht. So konnte er sich selbst als Präsident nicht auf Englisch unterhalten. Früh zeigten sich Ansätze seiner später vorzüglichen Rhetorik, für die er einen Preis gewann. Auffällig waren sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und ein starker Wille, der nach Erinnerung einer seiner Schwestern bis zum Eigensinn ging. Er konnte aber auch schon verführerischen Charme entfalten.
Lebte man damals als Katholik in einer Kleinstadt in der Provinz, dann war man politisch »automatisch rechts«, wie Mitterrand selbst feststellt. Aber da sein politisch interessierter Vater die soziale Ungerechtigkeit und die Arroganz der besseren Leute ablehnte, stand er politisch nirgendwo, er war in die damaligen Kategorien nicht einzuordnen.9 Die Mitterrands waren gemäßigt-konservative Republikaner. Über den damals führenden radikalsozialistischen (d. h. linksliberalen) Politiker Herriot habe man »mit misstrauischer Sympathie, über Briand klagend, über Poincaré mit Ehrerbietung, aber ohne Wärme« gesprochen. Die Kommunisten wären ihnen »eher wie Marsmenschen vorgekommen denn wie Wolfsmenschen«.10 Man mochte weder die Freimaurer noch die Deutschen, die Bolschewiken und die Sozialisten. Den Engländern begegnete man wegen der imperialistischen Rivalität in Afrika mit Zurückhaltung. In jedem Fall war man entschieden patriotisch, in der Art Clemenceaus, bis zum heiligen Zorn . Um später die politische Offenheit der Familie zu belegen, verweist Mitterrand neben den erwähnten Sillon-Aktivitäten eines Onkels auf den Großvater mütterlicherseits, der 1924 sogar für das Linkskartell eingetreten sei.
Studium in Paris
Der noch nicht ganz achtzehnjährige Abiturient Mitterrand, der 1934 nach Paris ging, um Jura und Politikwissenschaft...