Kapitel 1 – Michelle
»Brauchst du Hilfe mit dem störrischen Stück Stoff?«
Meine Schwester heiratet und ich kann nicht zu ihrer Hochzeit gehen.
Für Armin und Michelle steht in goldener Glitterschrift auf der Einladung. Aber »Armin und Michelle« gibt es nicht mehr. Meine kleine Schwester heiratet und ich bin eine fünfundzwanzigjährige Witwe.
Ich stehe inmitten meines begehbaren Kleiderschranks, der eigentlich nur eine aufgemotzte Abstellkammer ist, und befinde mich zum dritten Mal an diesem Morgen in einem erbitterten Kampf mit den Tränen. Sie sind zwei zu null in Führung.
Was um alles in der Welt soll ich auf einer Hochzeit? Ich kann versichern, dass ein wandelnder Springbrunnen wie ich kein besonders angenehmer Gast für so eine Feierlichkeit ist. Der einzige Grund, warum ich mich heute Morgen trotzdem aus dem viel zu großen Doppelbett gequält habe, ist unsere Verwandtschaft, die aus halb Deutschland angereist ist. Ich weigere mich, ihnen den Gefallen zu tun, zu Hause zu bleiben, nur damit sie sich keine Gedanken machen müssen, wie sie der armen, trauernden Michelle begegnen sollen. Nein, das gönne ich ihnen nicht. Lieber vermiese ich ihnen die Gelegenheit, ihre schicken Ballkleider und Smokings auszuführen, mit meiner unglücklichen Miene und den unvermeidlichen Tränenausbrüchen.
Na ja, und dann ist da noch Beatrice, der ich versprochen habe zu kommen. Meine kleine, verliebte, überglückliche Schwester. Sie hat mich geradezu angefleht, an ihrem großen Tag dabei zu sein. Als käme es ihr gar nicht in den Sinn, dass eine Hochzeitsfeier der letzte Ort ist, an dem eine frisch verwitwete Frau einen ganzen Tag zubringen will. Sich liebevoll gewisperte Trauversprechen anzuhören, bis dass der Tod euch scheide – und wer weiß schon, wann das ist –, beim Sektempfang munter mit all den Tanten und Onkeln, Cousinen und Cousins und nicht zu vergessen meinem Bruder und seiner wunderbaren Gattin über den neusten Klatsch zu plaudern und dann bis spät in die Nacht ausgelassen zu tanzen? Aber es ist Beatrice’ großer Tag und ich bin ihre Schwester. Natürlich will sie mich dabeihaben und wahrscheinlich ist ihr auch gar nicht klar, wie schwer es mir fällt, ihr diese Bitte zu erfüllen.
Es ist Folter. Ich bin erst seit einer guten Stunde wach und schon jetzt ist dieser Tag eine Qual. Ich will nicht mit fromm gefalteten Händen in der ersten Kirchenbank sitzen und rührselig lächeln, ich