WIE LEGENDE UND LEADER GEBOREN WERDEN.
WIRD ER DEN VERLAUF DER GESCHICHTE ÄNDERN?
Für Überraschungen war er schon immer gut. Bei einem Auftritt seines Kabaretts in Berlin schlug er einen provokanten Zuschauer, der rief, die Krim sei russisch. Während der Praktika in seinem Jurastudium, als er erkannte, dass der Prozess im Gerichtssaal langweilig ist, entschied er, er müsse sich im Leben eine »andere Bühne« suchen. Er hätte eine lukrative Anstellung in einer Moskauer Firma bekommen können, doch er lehnte sie ab und wählte die unsichere Zukunft mit der eigenen Künstlergruppe. Und mit der Ankündigung in der Silvesternacht, dass er sich zur Kandidatur als Präsident entschieden habe, überraschte er sogar seine eigene Frau.
Übrigens haben sowohl die Entscheidung zur Kandidatur als auch der Wahlsieg nicht nur seine Familie in Erstaunen versetzt. Wie war es möglich, dass der fiktive Präsident aus der SerieDiener des Volkes das Drehbuch im wirklichen Leben wiederholte und es ganz nach oben schaffte?
Die Medien auf der ganzen Welt verfolgten diese unerwartete Kandidatur und sparten nicht mit Sticheleien: »Komiker«, »Komödiant«, »Clown«. Seit mehr als 30 Jahren befasse ich mich beruflich mit Osteuropa, aber als Wolodymyr Selenskyj im Frühling 2019 zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, erstaunte das nicht nur mich gewaltig.
Die Welt wusste nur, dass der Kandidat aus der Unterhaltungsbranche die Berufspolitiker geschlagen und nach dem höchsten Amt im Staat gegriffen hatte. Selbstverständlich erinnerte ich mich aus der neuesten Geschichte Polens an ähnliche Unternehmungen – die Polnische Partei der Bierfreunde oder Schauspieler, die für das Parlament kandidierten. Ich erinnerte mich an den noch recht frischen Fall eines anderen Komikers, Beppe Grillo, der nur wenige Jahre zuvor die politische Bühne Italiens erschütterte, als er eine gesellschaftliche Bewegung ins Leben rief und sie ins Parlament führte. Doch diese Initiativen blieben eher Merkwürdigkeiten oder hatten keinen entscheidenden Einfluss auf die Politik.
Der Wahlsieg von Wolodymyr Selenskyj hingegen stellte die ukrainische Politik auf den Kopf. Zudem trat der aus dem Showbusiness kommende Präsident von Anfang an energisch auf wie ein erfahrener Politiker, obwohl ihm die Erfahrung fehlte. Die westliche Presse begann ihn mit Emmanuel Macron zu vergleichen – jener ist gerade mal einen Monat älter und war auch nicht bekannt, bevor er 2017 Präsident von Frankreich wurde. Nur war Macron schon mit der Politik vertraut. Aber