Samstag, 27. September 2008, 20:27 Uhr, in der Nähe von Kassel
Der restaurierte Gutshof hatte im Laufe der Jahrhunderte Raubrittern und lichtscheuem Gesindel einen Rückzugsort geboten. Er lag auf der einzigen Anhöhe im Umkreis von fünf Quadratkilometern. Eingebettet zwischen Felsen und Tanngestrüpp waren seine Besitzer vor dem Arm des Gesetzes quasi unerreichbar gewesen. Weit und breit fürchtete man die dunklen Gesellen, die zwischen diesen Gemäuern ihren Trinkgelagen frönten und von dort ihre blutrünstigen Raubzüge planten. Der Dreißigjährige Krieg läutete mit der Einführung von Kanonen den endgültigen Niedergang sämtlichen Rittertums ein. Die einst stolze Burg verwandelte sich in eine Ruine, die Romantikern im 19. Jahrhundert Inspiration zu Gedichten und Geschichten bot. Zuletzt fanden sich Investoren, die die abgeschiedene Lage wieder zu schätzen wussten. Niedersachsen und Thüringen waren mit dem Auto innerhalb einer halben Stunde zu erreichen. Auch Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz waren nicht aus der Welt. Das bot Angriffsflächen und Fluchtrouten und praktisch die Möglichkeit, an einer Vielzahl von Orten gleichzeitig zuschlagen zu können. Das Autobahnnetz verschaffte ihnen Möglichkeiten, von denen ihre Vorgänger niemals zu träumen gewagt hätten. Der Flughafen in Frankfurt war ebenfalls kaum mehr als zwei Stunden mit dem Auto entfernt. Polen und Tschechien waren innerhalb von sieben Fahrstunden erreichbar – ideal für Geschäfte aller Art. Und dank der Abschaffung der Grenzkontrollen im Personenverkehr innerhalb der europäischen Union bestand eine der leichtesten Übungen darin, in den ehemaligen östlichen Bruderstaaten unterzutauchen.
Das mit dem feudalen Anwesen verbundene Dorf umfasste heute kaum mehr als zweihundert Einwohner. Die Hälfte der Einwohnerschaft bestand aus zugezogenen Menschen, die über eine gefestigte Weltanschauung, entsprechende Normen und Werte verfügten. Die Neonazis hatten sich hier Macht und Einfluss gesichert. Und so galt dieser Flecken Land als national befreite Zone. Sie war zum Niemandsland im Kampf gegen den bundesdeutschen Staat geworden, den zu bekriegen sich die neuen Raubritter Ehre und Treue bis zum letzten Tropfen ihres Blutes geschworen hatten. Die Geschichte würde ihnen einst recht geben, daran hegten sie keinerlei Zweifel.
Durch die vielen Autos vor der Einfahrt zum ummauerten Gutshof war klar, dass an diesem Abend eine Versammlung stattfand. Eine ziemlich hochkarätige Zusammenkunft, den Nobel-Karossen nach zu schließen, meinte einer der beiden Beamten. Hauptsächlich vertreten waren die Marken VW, Audi und Porsche.
Zweihundert Meter von der Ritterburg entfernt standen auf dem Feld zwei zivile metallic-grau lackierte Fahrzeuge. Die beiden Beamten beobachteten seit Stunden das Anwesen durch Ferngläser und lauschten angestrengt durch die Lautsprecher im Ohr. Doch seit geraumer Zeit gab es keine Anweisungen mehr von Seiten der Dienststelle.
Die Verfassungsschützer hatten jedes der Autokennzeichen akribisch notiert und an die Zentrale weitergeleitet. Hartnäckig verfolgten sie durch die Ferngläser, was sich vor dem Grundstück tat.
Die hohen Herren der rechten Bewegung hatten sich längst in die nicht einsehbare Festung begeben. Da das Anwesen schon mehrfach wegen Hausdurchsuchungen polizeilich erfasst worden war, machten sich die Beamten keine Illusionen: Der Gutshof war besser gesichert als mancher Hochsicherheitstrakt in einem amerikanischen Gefängnis. Der Gutshof mit Burggebäude und Mauern besaß fünfzehn Ein- und zwanzig Ausgänge. Angeblich existierte sogar noch ein unterirdischer Geheimgang, der bereits den Raubrittern im Falle einer Eroberung zur Flucht gedient hatte. Überall waren Lichtschranken und Kameras montiert. Pitbulls wachten in Zwingern, deren Türen sich per Fernsteuerung automatisch öffneten.
Es war ein Ding der Unmöglichkeit, unbemerkt hineinzugelangen. Natürlich aus gutem Grund. Schon häufig hatten die Antifa und andere linksmilitante Organisationen versucht, den Gutshof im Sturm zu erobern. Bisher vergeblich – die Rechten hatten jeden Angriff erfolgreich abgewehrt.
Die Beamten hatten zudem keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Es gab nur Felder und weder Büsche noch Bäume, hinter denen Feinde Deckung hätten suchen können.
Ein mobiles Einsatzkommando wartete in fünf Kilometern Entfernung, bereit zum Einsatz für alle: die Verfassungsschützer, die ominöse Versammlung im Haus und potenzielle Angreifer. Vielleicht hatten die Linken einen Wink erhalten, was jedoch unwahrscheinlich war. Denn die rechte Elite duldete keine Maulwürfe, nachdem sie jahrelang von staatlich alimentierten V-Männern unterwandert g