Teil I: UNTERWEGS SEIN
Kulturgeschichte und das kreative Potenzial
Selbstgewissheit und Unsicherheit
Wir sehen einen Landedelmann in der Bibliothek seines Turmzimmers. Er diktiert seinem Schreiber, weil er seine eigene Schrift kaum lesen kann, bedeutsame, einzigartige Sätze aus Werken von Epikur, Cato, Plutarch, Cicero und Seneca, die dieser danach in die schweren Eichenbalken eingravieren muss, welche die Decke seines Turmzimmers tragen. Gut vorstellbar, dass dieser anmutige Mann auf den ersten Blick ein Skeptiker war oder nicht allzu vorsichtig durch das Leben ging, dass er aber sein Herz am rechten Fleck hatte, ohne langweilig zu sein. Annehmbar, dass er einen Sinn für Dinge hatte, die sich an der Grenze von Erfahrung und Bewusstsein befanden. Dass er freigeistig war, ohne atheistisch zu sein. Wir wollen diesen Mann näher kennenlernen.
Weil er mit seinen Inspirationsquellen verrät, dass er wie wir ein Mensch der Übergangszeit ist. Catos Stoizismus, der nach Seelenruhe und Weisheit durch emotionale Selbstbeherrschung strebt, epikureischer Rückzug von allzu viel gesellschaftlichen und politischen Anmaßungen und ein Skeptizismus, zu dem sich Cicero in seinen Schriften bekannte. Das klassische Programm in Zeiten der Unsicherheit. Er prägt uns ein, dass es ratsam ist, sich nicht allzu weit von sich selbst zu entfernen, bei sich zu bleiben, sich um die eigene Seele zu sorgen, sie zu formen und sich nicht im Delirium der Möglichkeiten zu verlieren und bloß weiter zu beschleunigen.
Als Michel de Montaigne 1571, mit achtunddreißig Jahren, sein Richteramt in Bordeaux aufgab, sich in sein Schloss zurückzog und bald darauf mit dem Schreiben seiner Essays begann, verwüsteten religiöse Bürgerkriege das Land. Die Katholische Kirche, die jedem Menschen Rang und Stand anwies und damit jede Emanzipation verhinderte, verlor zusehends an Macht und Einfluss. Sensible, gebildete Menschen und Künstler standen unerwartet und ungeahnt allein in der Welt. Zwischen ihnen und den Sternen eröffnete sich eine Leere, aber es zeigen sich auch unverhoffte, neue Möglichkeiten. Bereits in der Renaissance schuf das Zusammentreffen von Kunst, Religion und Mythos mit dem befreienden rationalen Geist ein Momentum, welches das Bewusstsein erschütterte, sprengte und weitete.
Ein wichtiger, wenn nicht sogar entscheidender Impuls kam von den Künstlern, welche durch die Entdeckung der perspektivischen Malerei das geometrische Verständnis für den Raum erheblich erweiterten. Das half später nicht nur Kopernikus, eine neue Kosmologie zu entwickeln, sondern führte auch zu einer Revolution des Sehens. Im zweidimensionalen Stil des Mittelalters wurden die geistlichen Hierarchien noch durch die Größe der Figuren vermittelt. Im dreidimensionalen Raum der perspektivischen Malerei dagegen haben Menschen und Heilige die gleiche Größe und rücken dadurch die physischen auf Kosten der metaphysischen Beziehungen in den Vordergrund. Künstler wie Leonardo da Vinci richteten ihre Aufmerksamkeit nun vermehrt auf die Beschaffenheit des menschlichen Körpers. Doch während er Anatomie, Glieder und Muskeln untersuchte, um ihre Tätigkeit besser verstehen zu können, hörten die Dinge dieser Welt auf, symbolische Darstellungen einer höheren Welt zu sein.
Bevor sich das gesellschaftlich auswirkte, schufen er, Raffael und Michelangelo Werke in einer nie zuvor gesehe