Warum es ohne das verbale Symbolsystem kein Gerücht über die Juden geben würde
„Der Glaube, es gebe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste Selbsttäuschung.“ (PaulWatzlawick)
Um das langlebige und im Wesentlichen gleichbleibende Phänomen des Judenhasses verstehen zu können, müssen zwei besondere Funktionen der Sprache beachtet werden: Zum einen ihre Rolle als kognitive Weltenerschafferin, also die Möglichkeit, mittels verbaler Symbole eigenständige Realitäten entstehen zu lassen. Zum anderen ihre soziale Rolle als Kommunikations- und Machtinstrument, in der zwischenmenschlichen Interaktion weitreichenden Einfluss auf Gedanken und Gefühle nehmen zu können. In Konsequenz kann die geistige Gewaltanwendung auch die physische Existenz von Menschen tangieren – in diesem Sinne wirkt Sprache also als Menschenzerstörerin.
Wir Menschen sind Menschen, weil wir denken und fühlen, weil wir ein Bewusstsein haben, weil wir über Sprache verfügen. Sprache ermöglicht, über das Hier und Jetzt hinaus zu reflektieren, gibt Kategorien, mit denen wir sonst nicht Fassbares denkbar machen. Wie kommen abstrakte Einheiten und Sachverhalte in die Welt? Indem sie mittels Symbolen greifbar und an andere vermittelbar werden. Konzepte wie Güte, Gemeinschaft, Demokratie wären ohne sprachliche Zeichen nicht denkbar.
Die realitäts- und weltenkonstituierende Rolle der Sprache wird treffend in dem berühmten Zitat des wichtigsten Sprachphilosophen im 20. Jahrhundert, LudwigWittgenstein, zusammengefasst: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Man muss keinen Sprachdeterminismus oder eine sprachliche Relativitätstheorie vertreten, der zufolge unsere gesamte Wahrnehmung von der jeweiligen Sprache bestimmt wird, um zu dieser Ansicht zu gelangen. Menschen sind zwar im Denken keine Sklaven ihrer Sprache und können durch Umschreibungen sowie kritische Reflexionen ihren Sprachgebrauch erweitern, umgestalten und überdenken, doch die bewertende Perspektive auf die Welt ist immer sprachlich geprägt. Diese den Geist lenkende Rolle der Sprache sah auch der Philosoph Bacon vor über 400 Jahren sehr deutlich: „Die Menschen glauben nämlich, ihre Vernunft führe die Herrschaft über die Worte; allein nicht selten beherrschen gegentheils die Worte den Sinn …“ (FrancisBacon 1620).
Dann denkt es, dann spricht es geradezu im Bewusstsein von Menschen. Ein feindseliger Sprachgebrauch setzt feindselige Gedanken und Gefühle frei, verführt das Denken zu gewalttätigen Überlegungen. Da die Sprache durch ihre grammatischen und lexikalischen Kategorien vorgibt, was wir bewusst denken können, setzt sie tatsächlich das formale Gerüst für unseren Geist.
Sie trägt und prägt nicht nur alle komplexen mentalen Prozesse, sondern begrenzt oder erweitert die Möglichkeiten des bewussten und reflektierenden Verstandes. Und im Bereich der nicht sinnlich und konkret erfahrbaren Dinge und Sachverhalte sind wir auf die Kategorien und Strukturen des Kenntnissystems der Sprache angewiesen: Den Inhalt des Satzes „Ohne die Sprache gäbe es keinen Judenhass“ könnten wir ohne die Symbolkraft und das formale System der Sprache weder denken noch anderen mittteilen. Warum? Weil erst das Symbolsystem Sprache die judenfeindlichen Konzepte und Gefühle formulier- und übertragbar macht. Und weil wir keine Gedankenübertragung bei der menschlichen Informationsvermittlung benutzen, sondern wahrnehmbare Einheiten. Um etwas für andere auszudrücken, bedarf es i