»So was ist bisher noch nie vorgekommen. Sie können es mir ruhig glauben, junger Mann. Ich kenne meine Schwester nun schon mein Leben lang. Sie ist manchmal ein bisschen wacklig auf den Beinen, vor allem, seit wir in die Jahre gekommen sind. Aber dass sie einfach umfällt, nein, das kenne ich nicht an ihr! Was meinen Sie, woran könnte es wohl liegen?«
Dr. Fred Steinbach, erfahrener Rettungsarzt in der Behnisch-Klinik und Anfang Sechzig, musterte die alte Dame, die ihn aufmerksam anschaute, leicht befremdet. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal als »junger Mann« tituliert worden war. Vielleicht hätte er sie doch bitten sollen, vorne im Krankenwagen neben Jens Wiener mitzufahren. Doch sie hatte sehr vehement darauf bestanden, bei ihrer Schwester zu bleiben. Und angesichts der Tatsache, dass diese beiden Damen zusammen mehr als zwei Jahrhunderte Lebenszeit aufzuweisen hatten, war es ihm schwer gefallen, zu widersprechen.
»Es scheint der Kreislauf zu sein«, mutmaßte er nun, denn dieser Blick aus rehbraunen Augen war keineswegs sanft, sondern sehr energisch und fordernd. »Hat Ihre Schwester sich vielleicht über etwas aufgeregt?«
»Nicht dass ich wüsste. Aber in unserem Alter kann schon eine defekte Glühbirne zum Waterloo werden, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie wird aber doch wieder, nicht wahr?«
»Sie ist jetzt stabil. Und wir sind gleich in der Behnisch-Klinik«, erwiderte Dr. Steinbach und fügte im Geiste hinzu: »Gott sei Dank…«
»Dass Sie mir sofort Dr. Norden Bescheid geben. Maria will nur von ihm behandelt werden. Sie ist ein bisschen skeptisch, wenn es um Medziner geht, nichts für ungut. Aber ihm vertraut sie!«
Dr. Steinbach lächelte verbindlich und schwieg sich aus.
Jens Wiener setzte rückwärts zum Eingang der Notfallambulanz, sprang aus dem Krankenwagen und öffnete die hintere Tür.
Gleich darauf wurde die Patientin auf Dr. Erik Bergers Station gebracht. Dr. Steinbach reichte seinem Fahrgast den Arm und geleitete sie hinter der Rollliege mit ihrer Schwester her.
»Sie sind nett, so was findet man heutzutage nicht mehr oft«, lobte sie und drückte ihm die Hand. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Dann will ich mal mit Dr. Norden sprechen.«
Erik Berger kam aus einem Behandlungsraum gefegt, stoppte abrupt, musterte die ale Dame irritiert und setzte an: »Was…«, wurde jedoch sofort unterbrochen.
»Herr Kollege, das ist Frau Katharina Holzhauser-Brink, sie begleitet ihre Schwester Maria-Theresia Bäumler, die unter einer akuten Kreislaufschwäche leidet. Ich habe die Patientin stabilisiert, Jens hat sie in Behandlungsraum drei gebracht.«
Dr. Berger, der solche weitschweifigen Erklärungen nicht gewöhnt war, räusperte sich und murmelte: »So, na gut, dann will ich sie mir mal ansehen.«
»Moment mal!« Katharina machte einen Schritt auf den Leiter der Notfallambulanz zu und musterte ihn streng. Sie war groß und schlank, hielt sich gerade, auch wenn sie manchmal Probleme mit dem Gleichgewicht hatte. Doch ihrer Meinung nach war alles im Leben reine Willenssache. In den zurückliegenden neunundneunzig Jahren war sie mit dieser Einstellung stets gut gefahren. Mit der flotten Kurzhaarfrisur, in Jeans, heller Bluse und einer leichten Strickjacke sah man ihr diese kaum an. Willi, einer ihrer Mitbewohner, schwor Stein und Bein, dass sie keinen Tag älter als achtzig sein konnte. Er war ein echter Charmeur…
»Sie sind nicht Dr. Daniel Norden!«
»Nein, ich bin Erik Berger und leite diese Station.«
»Wo ist Dr. Norden? Meine Schwester besteht darauf, von ihm behandelt zu werden!«
»Es tut mir leid, der Chef hat keinen Dienst. Und selbst wenn, wäre es nicht seine Aufgabe…«
Katharina wischte Dr. Bergers Argumentation mit einer nonchalanten Handbewegung vom Tisch. »Er ist Arzt, nicht wahr?«
Er seufzte. Sein Hilfe suchender Blick nach dem Kollegen Steinbach ging ins Leere, denn der hatte sich mittlerweile dezent entfernt und ihn mit dieser rabiaten Dame allein gelassen. Ausgerechnet! Erik Berger war ein brillanter Mediziner, der Umgang mit Angehörigen zählte allerdings nicht zu seinen wahren Talenten. Und diese Dame hier schien eine ganz besondere Herausforderung zu sein.
»Sicher, das hier ist eine Klinik, es gibt hier viele Ärzte«, spöttelte er, kam damit aber gar nicht weiter.
»Junger Mann, behandeln Sie mich nicht wie einen kindischen Deppen. Mein Verstand funktioniert noch einwandfrei. Und ich sage Ihnen, dass meine Schwester einzig und allein von Dr. Daniel Norden behandelt werden will. Ist das so schwer zu verstehen? Oder habe ich mich verständlich gemacht?«
»Schließen wir doch einen Kompromiss«, schlug Erik Berger in einem Anflug von Verzweiflung vor. »Ich untersuche Ihre Schwester und behandele sie. Und morgen kann der Chef dann nach ihr sehen. Wären Sie damit einverstanden?«
Ein Blick in diese rehbraunen Augen, vorwurfsvoll und zugleich unduldsam, gab ihm bereits die Antwort, noch ehe sie erwiderte: »Das hat so