1. KAPITEL
Schottische Highlands 1817
Über den Kamm des Hügels wehte ein herbstlicher Wind, der den Duft von Kiefernnadeln und Heidekraut mit sich trug. Ich war viel zu lange in der Stadt, dachte Gordon McHeath, als er über den Hügel weiter in Richtung des Dorfes Dunbrachie ritt. Tief atmete er die frische Luft ein. Nachdem er so viele Jahre in Edinburgh gelebt hatte, war er die Gerüche, den Lärm und die Menschenmassen einer hektischen Stadt gewöhnt und hatte fast vergessen, wie rein und klar die Luft der Highlands war. Hier unterbrachen nur zwitschernde Vögel und blökende Schafe die Stille.
Der Nordhang des Hügels links von ihm war dicht mit Ginster und Farn bewachsen, während sich auf der anderen Seite ein kleiner Wald aus Birken, Erlen und Kiefern erstreckte. Obwohl es erst September war, hatten sich die Blätter einiger Bäume bereits rot und golden verfärbt, und der laubbedeckte Boden wirkte feucht und schlammig. Durch das Gehölz erspähte Gordon einen rauschenden Fluss, in dem es im Frühjahr wahrscheinlich von Lachsen wimmelte.
Leider hatte er auch vergessen, wie unbarmherzig kalt der Wind in den Highlands sein konnte. Schwere graue Wolken trieben aus der Ferne unaufhaltsam auf ihn zu. Wenn er nicht in einen starken Regenschauer geraten wollte, musste er das Pferd, das er für diese Reise gemietet hatte, zu einem schnelleren Gang antreiben.
Als das Pferd zu traben begann, durchbrach das wilde Bellen eines Hundes die ländliche Stille. Es war weniger das Heulen eines Jagdhundes, sondern hörte sich vielmehr wie ein Wachhund an, der Alarm schlug. Vielleicht war es der Hund eines Schafhirten oder ein Hofhund, der ein Bauernhaus bewachte.
Gordon richtete sich in den Steigbügeln auf und sah sich um. Er konnte weder eine Schafherde noch ein Gehöft oder etwas anderes, das einen Wachhund erforderte, entdecken.
„Zu Hilfe! Helfen Sie mir!“
Der verzweifelte Schrei einer Frau drang mitten aus dem Wald zu ihm. Durch das laute Hundegebell und das Rauschen des Flusses war er kaum wahrnehmbar, dennoch ließ sich die Furcht, die in den Worten mitschwang, nicht überhören.
Gordon stieß dem Pferd die Fersen in die Seiten und lenkte es vom Weg ab in die Richtung der Frau und des Hundegebells. Doch der Gaul war so bockig wie ein Esel und wollte nicht gehorchen. Es war eines der stursten Pferde, die er je geritten hatte.
Fluchend saß Gordon ab, warf die Zügel um einen nahe gelegenen Strauch und stieg so schnell er konnte den rutschigen Abhang zwischen den Bäumen hinunter.
Dabei riss er den Ärmel seines Reisemantels am Ast eines Weißdorns auf. Seine Reitstiefel und der Saum seines Mantels waren binnen Minuten von Schlamm verdreckt, und sein Hut wurde ihm von einem tief hängenden Zweig vom Kopf geschlagen. Als er ihn aufhob, rutschte er auf feuchten Blättern aus, stürzte zu Boden und glitt den Hang hinab, bis er endlich einen dicken Ast zu fassen bekam.
Unterdessen bellte der Hund unaufhörlich, und die Frau rief erneut um Hilfe. Es klang schon viel deutlicher, obwohl Gordon sie noch immer nicht sehen konnte.
Als er sich aufrichtete, erblickte er unweit des Flussufers einen riesigen schwarzen, furchterregenden Hund, der am Fuß einer hochgewachsenen, goldblättrigen Birke stand und kläffte. Gordon konnte die Rasse nicht benennen, aber es war eines der größten und hässlichsten Tiere, das er je gesehen hatte. Der Kopf und der Kiefer des Hundes waren außergewöhnlich breit, die Augen lagen weit auseinander, und die kleinen Ohren waren angelegt. Bedrohlich knurrend, und dabei unablässig sabbernd, wich das Tier nicht von der Stelle.
Gordon hatte schon einmal einen tollwütigen Hund gesehen: mit Schaum vor dem Mund, wilden Augen und torkelndem Gang. Diesen Anblick hatte er nie vergessen und war sich deshalb sicher, dassdiese Bestie nicht tollwütig sein konnte. Dennoch hielt er vorsichtshalber Abstand.
„Sind Sie verletzt?“ Die Stimme der Frau kam aus derselben Richtung wie das Knurren des Hundes. An ihrer vornehmen Aussprache erkannte Gordon, dass sie weder eine Bauersfrau noch eine Schafhirtin sein konnte.
„Nein“, rief er zurück.
Wer war sie?Wo war sie? Er konnte niemanden sehen, weder neben dem Hund noch am Baum, es sei denn … Vorsichtig trat er näher und blickte prüfend die Zweige hinauf.
Da war sie! Sie hatte die Arme um den schlanken Baumstamm geschlungen und stand auf einem Ast, der trotz ihrer zarten Gestalt kurz davor war durchzubrechen.
Obwohl sie sich in einer durchaus gefährlichen Situation befanden, entging Gordon nicht, dass sie außergewöhnlich schön war, mit feinen Gesichtszügen, großen dunklen Augen und dunklen Locken, die unter ihr