Endlich zurück
Mia starrt auf die Regentropfen, die in endlosen Schlieren über das Zugfenster ziehen und es beinahe unmöglich machen, dort draußen irgendetwas zu erkennen. Trotz des trüben Herbstwetters ist sie bester Stimmung: Sie hatte die letzten vier Wochen bei ihren Eltern in der Nähe von Bonn verbracht, doch nun – Mitte Oktober – steht das neue Semester vor der Tür und es war Zeit nach Berlin zurückzukehren. Und wenn Mia ganz ehrlich war, dann wäre sie am liebsten schon früher wieder hergekommen: Sie freute sich wahnsinnig, ihre beiden Mitbewohner endlich wiederzusehen.
Die letzten Monate mit Jonathan und Michael in ihrer gemütlichen Dachgeschosswohnung (die sich im Sommer allerdings in den reinsten Backofen verwandelt hatte), waren wie im Flug vergangen. Nachdem der dominante Jonathan begriffen hatte, dass Mias romantische Gefühle für Michael weder etwas an ihrer Zuneigung für ihn änderten – noch daran, wie gerne und leidenschaftlich sie sich ihm hingab – hatten die drei ein fragiles Gleichgewicht erreicht: Mia musste sich nicht entscheiden und konnte ihre (ganz unterschiedlichen) Gefühle fürbeide Männer ausleben, während die Hierarchien in der WG immer klarer abgesteckt wurden – Jonathan hatte das letzte Wort und bis zu einem gewissen Grad auch die Kontrolle darüber, ob und wann Mia und Michael miteinander schliefen. Statt sich dadurch eingeschränkt zu fühlen, hatten diese überraschenderweise festgestellt, dass sie sich in diesem Arrangement nicht nur wohl fühlten, sondern es sogar genossen.
So war der Sommer zwischen Uni, Wohnung und Ausflügen zum See verflogen. Mia hatte ihre Verliebtheit mit Michael genossen und gleichzeitig mit Jonathan ganz neue Arten sexueller Erfüllung entdeckt.
Aber während der letzten Wochen hatte sie nun also weder den einen noch den anderen gesehen und beide ganz schrecklich vermisst. Zwar hatten sie häufig telefoniert – oft auch alle drei zusammen – doch das war einfach nicht dasselbe. Und auch wenn Mia sich ein wenig dafür schämte: Es waren nicht nur die Jungs gewesen, die ihr gefehlt hatten, sondern vor allem auch der Sex. Zumindest hatte Jonathan sein Masturbationsverbot dahingehend angepasst, dass er ihr ein paar Mal am Telefon erlaubt hatte, es sich selbst zu besorgen. Aber auch das war halt nur ein magerer Ersatz.
Entsprechend aufgeregt ist sie nun, als sich der Zug endlich der Hauptstadt nähert. Schon während sie noch in Berlin-Spandau halten, beginnt sie ihre Siebensachen zusammenzupacken, schließt die Schnallen ihres Rucksacks und schlüpft in ihre cognacfarbene Lederjacke. Nervös fährt sie anschließend mit den gespreizten Fingern durch die rotblonden Locken. Ob sie sie ebenso vermisst haben? In ihrem Magen kribbelt es.
Der Zug ist noch ein paar Minuten vom Hauptbahnhof entfernt, als Mia es nicht mehr aushält und von ihrem Sitz aufspringt. Schnell hat sie sich den Rucksack über die Schulter geworfen und zerrt ihren leuchtend blauen Koffer durch den schmalen Gang in Richtung Ausgang. Dort drückt sie sich an der kleinen Scheibe in der Tür die Nase platt, während der ICE immer weiter ins Zentrum der Stadt eindringt und schließlich mit quietschenden Bremsen in den Hauptbahnhof einfährt.
Trotz der Regentropfen auf der Scheibe bemüht Mia sich auf dem Bahnsteig nach Jonathan Ausschau zu halten – denn der hatte angedeutet, dass er sie vielleicht abholen würde.
Als der Zug dann endlich zum Stehen kommt, entdeckt sie zu ihrer Überraschung nicht nur ihn, sondern auch Michael, der – wenig überraschend – in einem der gelben Raucherquadrate steht.
Die Türen öffnen sich, Mia wuchtet ihren Koffer aus dem Zug und eilt dann mit einem breiten Grinsen im sommersprossigen Gesicht auf die beiden Jungs zu. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie niemals glauben, dass diese beiden die besten Freunde sind: Jonathan mit seinen breiten Schultern, den sommerlich blonden Locken und dem leuchtend roten Uni-Pullover sieht eher aus wie ein paradigmatischer Sportstudent, denn wie der angehende Psychologe, der er ist. Michael hingegen – in schwarzer Hose und schwarzer Lederjacke, die Zigarette in den schlanken Fingern – hat das Wort „Kunststudent“ förmlich auf die Stirn tätowiert. Seine dunklen Haare sind in den letzten Wochen ein gutes Stück gewachsen und fallen ihm nun tief in die braunen Augen.
Es ist Jonathan, der Mia als erster entdeckt, und sogleich Michael auf die (deutlich schmalere) Schulter haut. „Da ist sie!“ Schon kommt er ihr mit zwei schnellen Schritten entgegen, hat sie im nächsten Moment an der Taille gepackt und wirbelt sie her