ZWEI
LONDON, SALTWELL STREET, 24. OKTOBER
Rebecca Winter spürte bleierne Müdigkeit, als sie morgens gegen halb sechs in ihrem Ohrensessel erwachte. Wie ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert beherrschte er mit seinem roten Samt, fixiert von Messingnägeln, ihr kleines Wohnzimmer. Er war bequem, aber ihr Schlaf war zu kurz gewesen. Sie hatte bis spät in die Nacht einen Bericht über eine Manipulation im Hochfrequenzhandel studiert, bevor sie mit demMedicus in den Händen, umhüllt von einer Wolldecke, in ihrem kleinen Apartment in der Saltwell Street, ganz in der Nähe des Londoner Wirtschaftszentrums Canary Wharf, eingenickt war.
Sie schob das Buch von ihrem Schoß neben sich auf den Sessel, streckte sich, gähnte ausgiebig, ging zum Fenster und blickte in den kleinen verwilderten Garten, der zu ihrer Wohnung gehörte. Wieder einmal dachte sie daran, sich mehr um ihn zu kümmern, Gemüse und Kräuter anzupflanzen, doch die Zeit fehlte, wie für vieles in den vergangenen Jahren. Sie zupfte einen Wollfussel von ihrem Jogginganzug und trottete in die Küche. Dort holte sie ein paar Muffins aus dem Schrank, legte sie auf einen Teller, machte sich einen Tee und überlegte, wie sie den Tag mit so wenig Schlaf in den Knochen durchstehen sollte. Vielleicht wäre jetzt der richtige Augenblick, ihr Überstundenkonto etwas abzubauen und später ins Büro zu fahren. Im Kühlschrank war keine Milch. Es war sicher zu früh, ihre Nachbarin zu fragen, obwohl die gern zu ungewöhnlichen Zeiten herumgeisterte. Sie würde den Tee heute mal ohne Milch trinken.
Auf dem Rückweg ins Wohnzimmer vermied sie es, in den Wandspiegel im Flur zu blicken. Sie wusste, wie sie zu so früher Stunde aussah.
Kaum hatte sie sich wieder in ihren Ohrensessel fallen lassen, einen Biss in den Muffin genossen und mit geschlossenen Augen den ersten Schluck Tee geschlürft, klingelte das Telefon. Sie blickte auf ihren Wecker im Bücherregal. Noch nicht mal sechs!
Es war Robert Allington, der Leiter der Abteilung für schwere Wirtschaftsdelikte bei Scotland Yard – ihr Chef. Um diese Uhrzeit! Seit Wochen traktierte er sie, sie solle doch ihren Eifer etwas zurückschrauben und kürzertreten, und nun riefer zur Unzeit an. Vermutlich würde er sich jetzt sogar wundern, dass sie nicht gleich abhob. Sie zögerte, trotzte für einen Moment. Dann siegte ihr Pflichtgefühl.
»Guten Morgen, Rebecca, entschuldige die frühe Störung. Ich habe keine gute Nachricht: Denver hängt im Park!«
»Waas?!« Winters Stimme überschlug sich. »Wo?«
»Mudchute Par …«
Noch bevor Allington zu Ende sprechen konnte, hatte sie aufgelegt. Die Nachricht war ein Schock. Alles hatte sie in den letzten Monaten darangesetzt, den Wertpapierbetrüger Jarod Denver zu fassen. Und nun war er tot! Ihre Müdigkeit war wie weggebeamt. Sie stürzte zum Schrank, um ihre alte Jogginghose gegen eine schwarze weite Stoffhose zu tauschen und zog einen ihrer zahlreichen bunten Pullover über. Rebecca Winter mochte es immer bequem. Sie schnappte sich ihr Handy. Beim Hinausgehen riss sie ihren weiten Wollmantel so energisch vom Haken, dass das Innenfutter riss. »Verdammte Scheiße!« Mit der Wucht ihrer Verärgerung knallte sie die Tür ins Schloss.
Seit drei Jahren arbeitete Winter als Inspector in enger Kooperation mit dem Serious Fraud Office für eine Sonderabteilung von Scotland Yard. Der Ausbruch der Finanzkrise war Jahre her. Einige Banken waren inzwischen zu immensen Strafen verurteilt worden. Aber dass es gelang, einzelne Banker, wie den ehemaligen Goldman-Sachs-Manager Fabrice Tourre, auch »Fabulous Fab« genannt, hinter Gitter zu bringen, war die Ausnahme.
Seine Verurteilung war einer ihrer größten Erfolge. Sie hatte der US-Börsenaufsicht und dem FBI die entscheidenden Hinweise geliefert, um das Verfahren gegen den 34-Jährigen auf den Weg zu bringen. Aber er wa