: Simon Wiesenthal
: Die Sonnenblume Über die Möglichkeiten und Grenzen von Vergebung
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958900226
: 1
: CHF 15.90
:
: Geschichte
: German
: 400
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Sie sind ein KZ-Häftling. Ein sterbender SS-Soldat bittet Sie um Vergebung. Was tun Sie? Vor ebendieser Entscheidung stand der Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal im Jahr 1942. In seiner Erzählung Die Sonnenblume schildert der große Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit seinen Gewissenskonflikt, der ihn noch Jahrzehnte später nicht losließ. Hatte er das Richtige getan? Darf das Unverzeihliche verziehen werden? Wenn ja, wie? Wenn nein, wie weiterleben? Simon Wiesenthals Fragen rühren an die Grundfesten des Menschseins. Über 60 herausragende Männer und Frauen stellen sich ihnen: Geistliche und Theologen, Psychologen und Philosophen, Holocaust-Überlebende und Menschenrechtsaktivisten. Ihre Antworten sind so unterschiedlich wie ihre Erfahrungen in der Welt und zeigen, dass Wiesenthals Frage heute genauso aktuell ist. Das Buch fordert uns heraus, unsere eigene Haltung zu Vergebung und Versöhnung, Gerechtigkeit und Mitgefühl infrage zu stellen.

Olivier Abel | 1999


Olivier Abel (* 1953, Frankreich) ist Professor für Ethik und Philosophie am Institut Protestant de Théologie, Montpellier und Paris. Seine Forschungsarbeiten drehen sich um Erinnerung und Vergebung. Er bekleidet mehrere Gastprofessuren u.a. an der Galatasaray-Universität Istanbul. Er war Präsident der protestantischen Ethik-Kommission in Frankreich (1986–2000).

Sehr verehrter Herr Wiesenthal, Ihre Frage ist nicht bloß unausweichlich, sondern zwingt sich uns geradezu auf, ist ein Aufruf. Auch wenn Sie sie vor nunmehr dreißig Jahren in die Welt geworfen haben, ist sie für uns noch heute von absoluter Aktualität. Unmittelbar präsent. Um sie beantworten zu können, muss ich jedoch meine Perspektive ändern. Mich in die Position des Menschen begeben, der imstande wäre zu sagen, wer überhaupt verzeihen kann. Aber wer bin ich, dass ich solche Positionen dem Erzähler oder mir selbst zuschreiben kann? Ihnen nicht zu antworten wäre allerdings auch eine Antwort. Wir sind Ihnen alle eine Antwort schuldig auf Ihre Fragen, auch wenn wir nicht alle für die Taten, um die es geht, verantwortlich sind. Weil es sich bei der Frage, die uns hier zusammenbringt, nicht um eine private, sondern um eine politische Frage handelt, anlässlich der wir uns alle versammeln, zusammenstehen und demselben Ereignis gegenübertreten. Durch Ihre Frage sind wir zu Zeitgenossen geworden. Diese Tatsache, und nur diese, erlaubt es mir, auf Ihre Frage zu antworten, Ihnen, die Sie diese Frage vor dreißig Jahren gestellt haben, in einer anderen Zeit, ja fast in einer anderen Welt.

Die Verschiebung der Perspektive ist keinesfalls einfach. Weil die Kluft mit der Zeit unüberwindbar wird. Man glaubt, angesichts des Bösen wären sich alle einig. Aber dann stellt man fest, dass es kaum ein Thema gibt, über das man sich weniger einig wäre. Daher ist es auch so schwierig, eine universelle Moral, die auf dem gemeinsamen Kampf gegen das Unglück basiert, zu errichten. Unglück ist nie etwas Allgemeines, es ist für jeden etwas anderes, das ist das Unglück. Wir sehen das Böse nicht an derselben Stelle. Dieselbe brutale Tat interpretieren wir unterschiedlich, nehmen unterschiedliche Positionen dazu ein, haben ganz unterschiedliche Auffassungen von unserer Verantwortung oder Haftung im Hinblick auf Ihre Frage. Und sie divergieren umso mehr, als der Abstand zwischen den Generationen wächst: Was für die Eltern Glück bedeutete, ein Ideal war, ist für die Kinder mit Ekel verbunden, wird zum Fluch – und um zu der ursprünglichen Frage zurückzukehren: Was verzeihlich war, wird unverzeihlich oder umgekehrt. Was passiert, wenn die Generation, die das Desaster erlebt hat, verschwindet, jene Generation von Opfern,Tätern, Zeugen? Was passiert, wenn uns die Schockwelle die Generationenmauer durchbrechen lässt? Jene, denen das Vergangene zu deutlich vor Augen war, als dass sie das Vergessen suchten, weichen denen, die sich nicht genügend erinnern, als dass man nicht versuchen würde, sie daran zu erinnern. Die Bedingungen für Vergebung werden durch diese Kluft zutiefst erschüttert.

Sie sehen schon, worauf ich mit meinen Positionen hinauswill. Man kann sich nicht selbst vergeben: Der andere ermöglicht es mir, mich anders zu sehen, aber das erfordert einen Wechsel der Perspektive, die Einnahme einer anderen Position. Ich denke daher, dass Ihr Erzähler recht hatte: Er konnte nicht