EINFÜHRUNG
Seine Stimme bebt, stellenweise wird sie brüchig; hört man genau hin, muss Martin Schulz mehrmals im Satz kurz Luft holen. Sein Herz schlägt ihm sprichwörtlich bis zum Hals. Derart hat man ihn in seiner gesamten Zeit im Europäischen Parlament nicht reden hören. Seine sonst so sichere Sachlichkeit ist einem gewaltigen Gefühl gewichen, das Martin Schulz nur mit Mühe im Zaum halten kann. Es ist ein Gefühl von Entrüstung, mehr noch: Wut, noch eher: Abscheu.
Der 9. März 2016. Der Straßburger Plenarsaal ist voll besetzt. Am Morgen hatte es eine Debatte über einen bevorstehenden EU-Türkei-Gipfel gegeben. Dabei beschimpfte der griechische Abgeordnete Eleftherios Synadinos von der rechtsradikalen Partei Chrysi Avgi (»Goldene Morgenröte«) die Türken aufs Übelste. Er nannte sie »geistige Barbaren, Schwindler, gottesverachtend und schmutzig« und verglich sie mit »Hunden«, gegen die nur die Sprache der Faust helfe. Martin Schulz, zum Zeitpunkt der Äußerung nicht im Parlament, war das zu Ohren gekommen, woraufhin er sich entschloss, Synadinos einen unmissverständlichen Denkzettel zu verpassen. Nicht irgendwann, sondern jetzt, unmittelbar, und auf großer Bühne. Dafür kam nur ein Mittel der Sanktion infrage: der Platzverweis.
Entschlossen betritt Martin Schulz nach der Mittagspause das Rund des Saals, setzt sich auf den Sessel des Parlamentspräsidenten und bittet um Gehör. Er spricht von einem »Zwischenfall«, zu dem es gekommen sei, zitiert mit einem Pathos des Angewidertseins die Worte des Griechen, bewertet diese als »schwerwiegende Verletzung der Werte und Grundsätze der Union« und verkündet dann seine »Sofortmaßnahme«, nämlich den Ausschluss von der Sitzung. Er erklärt: »Ich glaube, dass systematisch der Versuch unternommen wird, rote Linien zu überschreiten, um den Rassismus hier salonfähig zu machen.« Rigoros lässt Schulz keine Debatte zu seiner Entscheidung zu, bittet nach mehrmaliger Aufforderung den Saaldiener, Synadinos hinauszugeleiten. Breiter Applaus für den Deutschen, vereinzelte empörte Zwischenrufe für den Griechen.
Diese Episode, die ein persönliches Nachspiel zwischen Schulz und Synadinos hat (nachzulesen ab Seite 157), zeigt wie keine andere, was passiert, wenn rote Linien überschritten werden, die Martin Schulz für sich gezogen hat. Sie macht deutlich, durch welche Schlüsselreize ein zwar grundsätzlich emotionaler, aber sonst doch in sich ruhender und besonnen agierender Politiker an den Rand der Contenance gebracht werden kann. »Das war ein Frontalangriff«, erklärt er seine Reaktion für dieses Buch, »ein Frontalangriff auf alles, was mir heilig ist.«
In der Politik hört man häufiger von roten Linien. Meist werden sie aus strategischem Kalkül gezogen, um dem Gegner zu zeigen: bis hierhin und nicht weiter. Der gesamte Kalte Krieg funktionierte so. Barack Obama bezeichnete im Syrienkrieg einen möglichen Chemiewaffeneinsatz Assads als Überschreiten einer roten Linie. Und ein ehemaliger Kurzzeitbundespräsident meinte so etwas Ähnliches wie eine rote Linie, als er einem ehemaligen Chefredakteur ins Handy dröhnte, dass nun der Rubikon überschritten sei. Die rote Linie aber, von der Martin Schulz im Fall Synadinos spricht, hat weder mit Strategie noch mit Abschreckung zu tun, sondern orientiert sich an moralischen Wertmaßstäben. An den moralischen Wertmaßstäben Europas, aber vor allem an denen von Martin Schulz.
Nur wodurch sind sie bedingt? Bedachte politische Handlungen wie auch Kurzschlussreaktionen kann man nicht wirklich nachvollziehen, ohne die genaue Prägung ihrer Akteure zu kennen. Der wohlbehütet aufgewachsene John F. Kennedy hatte völlig andere rote Linien als der ebenso wohlbehütet aufgewachsene Richard Nixon. Der Charismatiker Charles de Gaulle agierte völlig anders als der Charismatiker Nicolas Sarkozy. Und Helmut Kohls überhebliche Bimbespolitik rührte von anderen Ursachen her als Gerhard Schröders überhebliche Bastapolitik. Was genau also treibt Martin Schulz an? Was muss er erlebt bzw. realisiert haben, um so zu reagieren wie im Fall Synadinos? Und welche Auswirkungen wird das auf die Politik des Bundes- oder Vizekanzlers haben?
Dass Martin Schulz Sozialdemokrat ist, erklärt noch nicht viel. Seine laufen