1
INTERNATIONAL AIRPORT CHARLES DE GAULLE AUSSERHALB VON PARIS – LETZTE WINTERSONNENWENDE
Achtzehn Monate nach dem Tod ihres Mannes kehrte Lia Carrer ins Languedoc zurück, wie ein Schatten auf der Suche nach Licht.
Vom gläsernen Innenhof des Terminals sah die graue Wolkendecke über Paris anders aus als der Himmel über Seattle, wo sie hergekommen war. Aber die Stadt der Lichter war nicht ihr Endziel. Der Hochgeschwindigkeitszug TGV fuhr direkt von Charles de Gaulle und brachte sie in weniger als fünf Stunden nach Narbonne im Süden.
Im TGV sank Lia auf ihren Fensterplatz. In ihrem Kopf hallten noch Flugzeugmotoren und Lautsprecher, aber die Geräusche der Zugfahrt – die Türen, die sich mit pneumatischem Zischen öffneten und schlossen, der Luftdruck beim Vorbeifahren entgegenkommender Züge – waren sichere Anzeichen dafür, dass ihre Reise bald vorüber war. Sie befand sich wieder auf festem Boden. Schläfrig blickte Lia aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft.
Als die winterbraunen Täler langsam den Felsen und Abhängen des Zentralmassivs wichen, stieg Vorfreude in ihr auf. Auf der anderen Seite dieses riesigen Gebiets voller erloschener Vulkane und Felsplateaus lag die Provence und die wilde, einsame Schönheit ihres geliebten Languedoc. Sie dachte an die Sommerhitze in den Tälern der Pyrenäen und an die wilden Winterstürme entlang der Mittelmeerküste.
Es war der 21. Dezember, die letzte der dunkelsten Nächte. Lia hatte zwar nicht absichtlich diesen Tag gewählt, um in Frankreich einzutreffen, aber jetzt kam er ihr vor wie ein gutes Omen. Sie hatte die Wintersonnenwende, wenn die Erde ihr blasses Gesicht der Sonne zuwandte, immer als Zeit der Wiedergeburt empfunden. Vielleicht war diese Reise ihre Wiedergeburt. Zumindest ging es vorwärts.
Aus der goldenen Dämmerung war tiefblauer Nachthimmel geworden, als sie am Bahnhof in Narbonne ihren Mietwagen abholte. Die letzten Kilometer bis nach Minerve fuhr sie über eine leere Landstraße, durch dunkle Täler, in denen an Kreuzpunkten römischer Straßen mittelalterliche Ruinen standen. Die Geräuschkulisse einer Sendung auf Europe 1 und die gelegentliche Erinnerung der körperlosen Stimme aus dem GPS leisteten ihr Gesellschaft. Lia hielt vor Le Pèlerin, einem Steinhaus am Ortsrand, hoch über dem Fluss Cesse. Hier war ihre Reise zu Ende.
Vor drei Jahren hatten ihre liebsten Freunde Rose und Domènec Hivert eine verfallene Ruine in Minerve gekauft, fünfundzwanzig Kilometer nördlich von ihrem Hof in Ferrals-les-Corbières. Sie benannten sie nach den Wanderfalken, die es im ganzen Languedoc gab, Le Pèlerin, und verwandelten das Objekt in einegîte – ein Feriendomizil, das man mieten konnte –, um ihr Einkommen als Bauern und Winzer ein wenig aufzubessern.Pèlerin bedeutete jedoch auch Pilger. Als Lia anrief und eine Zuflucht suchte, bot Rose ihr das Cottage an, bis sie sich ihre nächsten Schritte überlegt hatte.
In der Diele ließ sie ihre Reisetaschen fallen und schlüpfte aus ihren Schuhen. »Ich bin da!«, verkündete sie dem dunklen, stillen Haus. »Der Pilger auf der Suche nach einem Heim.« Le Pèlerin wirkte auf sie wie ein Nest in einer Baumhöhle – geschützt und ruhig.
Eine Lampe auf einem schmalen Ti