Prolog:
Harro Harring – Wer?
Wenn Sie den Namen Harro Harring noch nie gehört haben, geht es Ihnen nicht anders als den allermeisten Germanisten oder Historikern. Selbst Heinrich-Heine-Ludwig-Börne-Vormärz-Spezialisten ist der Name meist nicht geläufig. Er ist der »Dichter Unbekannt« des 19. Jahrhunderts. Und einer der maßgeblichen Rebellen des Vormärz und Kämpfer für ein Europa ohne Grenzen. Seine Abenteuer, Werke, Taten, Erfolge und Niederlagen ergeben in der Summe eine Art »Meistererzählung« der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848.
In den Aufzählungen der 1848er-Revolutionäre sucht man ihn heute allerdings oft vergebens, denn er wurde verfolgt, verfemt und dann vergessen. Zu seiner Zeit – vor allem in der Zeit vor 1848 – war Harro Harring berühmt, berüchtigt und wurde viel gelesen. Seine »Memoiren über Polen« wurden in wenigen Wochen zum Bestseller, bis sie von der preußischen Zensur verboten wurden. Sein Steckbrief lag an allen Grenzstationen des Deutschen Bundes aus. Allein die Ankündigung, Harro Harring würde erscheinen, löste in manchen Zeiten bei den Liberalen freudige Unruhe und den Behörden diplomatische Hektik und Truppenbewegungen aus. Als bayrische Soldaten ihn im Mai 1832 nach dem Hambacher Fest verhaften wollten, floh er nach Bergzabern und in die Stadt Weißenburg im Elsass. In Bergzabern stellten sich die Bürger dem Militär in den Weg und verhalfen ihm so zur Flucht. In Weißenburg ermöglichten sie seinen Verbleib in Frankreich. Und 1849 ging der junge Henrik Ibsen in Christiania, dem heutigen Oslo, mit tausend anderen auf die Straße, als man Harring wegen eines Theaterstücks bei Nacht und Nebel außer Landes schaffen wollte. Der »Fall Harring« beschäftigte danach die skandinavische Politik über Jahre.
Wer war dieser Harro Harring?
»In London ist meine Qual eingetroffen, jener skandinavische Dichter, der der beste Mann auf der Welt ist und der quälendste Dummkopf dieser Zeit«, schrieb 1842 der nach England geflüchtete Revolutionär und spätere Nationalheld Italiens Giuseppe Mazzini an seine Mutter.
Karl Marx überzog ihn 1852 in seinem »Die großen Männer des Exils«1 seitenlang mit Hohn und Spott und endete mit dem vernichtenden Urteil über »die Abenteuer unsres demagogischen Hidalgo aus der soderjylländischen Mancha. In Griechenland wie in Brasilien, an der Weichsel wie am La Plata, in Schleswig-Holstein wie in New York, in London wie in der Schweiz: Vertreter bald des Jungen Europa, bald der südamerikanischen Humanidad, (…) verkannt, verlassen, ignoriert, überall aber irrender Ritter der Freiheit, (…) wird aller Welt zum Trotz von sich sagen, schreiben und drucken, dass er seit 1831 das Haupttriebrad der Weltgeschichte war.« Wer sich wie Harring über die »communistischen Spekulationen« von Marx erregte, konnte keine Gnade erwarten. Marx gab im Londoner Exil den scharfen Ton vor, den noch hundert Jahre später alle »Abweichler« von der kommunistischen Parteilinie zu erwarten hatten.
Noch 1854 verschickten die Hamburger Polizeibehörden über den so Beschimpften einen Steckbrief an die Grenzbehörden der deutschen Bundesstaaten: »Alter 56; Statur: mittel; Aussehen: etwas kränklich; Haar: schwarz; Bart: schwarz, über das ganze Gesicht gewachsen; Augen dunkel. Hat eine Narbe nach einer Stich- oder Schusswunde. Sprache: deutsch, dänisch mit etwas deutschem Akzent, englisch, spanisch, russisch. Alles sehr fließend.«
Selbst die Beschreibung der Polizei zeichnete den Rebellen als verwegene Figur. Er musste unheimlich wirken. Harro hatte keine dunklen, sondern graue Augen, von der Farbe des Watts, und keine schwarzen Haare, sondern welche, die mit dem trockenen Gras der Marsch gefärbt zu sein schienen. Er war nicht besonders groß, eher schmal. Aber er trug gern einen Dolch bei sich. Und gelegentlich eine Pistole. Aber am meisten fürchteten sich die Jäger vor seinen Hunden.
Harro Harring.
Geboren am 28. August 1798 auf dem Ibenshof in Wobbenbüll bei Husum in Nordfriesland, erstochen am 15. Mai 1870 in St. Helier auf der Insel Jersey von eigener Hand.
Ein Weltbürger, der, in Nordfriesland aufgewachsen, 50 Jahre lang wie ein »Odysseus der Freiheit« durch die Welt zog. Ein Dichter von Hunderten Gedichten