: Barbara Stengl
: Siehst du mich? Roman
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958902657
: 1
: CHF 11.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 264
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Ich kenne meinen Vater nicht.' Nur diesen einen Satz hat Nina, Ende dreißig, von ihrer Mutter gehört, als sie sich das letzte Mal begegnet sind. Nun ist die Mutter tot, und Nina kehrt in ihren Heimatort St. Georgen an der Gusen im oberösterreichischen Mühlviertel zurück, um gemeinsam mit ihrer betagten Großtante Resl eine Nacht lang Totenwache zu halten. Am Sarg der Mutter will Nina, die unter dem Schweigen und der Gefühlskälte ihrer Familie ein Leben lang gelitten hat, endlich Klarheit über ihre Herkunft. Ein Ringen um die Wahrheit entspinnt sich zwischen den beiden so ungleichen Frauen. Nach und nach entfaltet sich eine Familiengeschichte, die auf tragische Weise mit Geschehnissen aus der NS-Zeit verbunden ist. In Rückblenden erzählt Barbara Stengl die Biografien von Großmutter, Mutter und Tochter und legt dabei ein kaum beachtetes Kapitel der österreichischen NS-Geschichte offen. Beeindruckend setzt sie das Schweigen des Einzelnen in Bezug zum kollektiven Verdrängen - und beschreibt, wie das eine das andere befördert. Ein kluger, sprachlich fesselnder Roman darüber, wie weit familiäre und historische Lebenslügen ihre Schatten bis in die Gegenwart werfen und das Leben aller Beteiligten vergiften, bis sie sich aus diesen Lügen befreien.

Barbara Stengl, geboren 1973 in Graz, studierte Theater- und Medienwissenschaften, Politik und Psychologie in Zürich und Erlangen. Nach Stationen im Verlagswesen und in der Erwachsenenbildung arbeitet sie seit über 15 Jahren als Theaterpädagogin, Regisseurin und Journalistin. Sie ist Autorin mehrerer Theaterstücke und Kinderbücher. Für ihren ersten Roman 'Siehst du mich?' erhielt sie den Werkbeitrag des Kantons Zürich. Barbara Stengl ist Mutter zweier erwachsener Kinder und lebt in der Schweiz.

4. Kapitel


Warum hatte ihr ihre Mutter nichts gesagt?

Nina wusste sofort, wann sie ihre Mutter das letzte Mal gesehen hatte.

Bewegungslos lag dieses Treffen in ihrem Inneren.

Es war am sechsten Geburtstag ihrer Tochter Fanny gewesen. Es hatte geregnet, der Himmel hing grau und hochnebelverhangen über dem Boden. Die Blätter lagen wie ein glänzender Teppich vor dem Haus. Im Kiesweg vor der Haustür hatten sich kleine Seen gebildet. In die Fanny mit ihren Gummistiefeln hineinhüpfte.

Nina hatte in der Nacht nicht gut geschlafen. Sie hatte schlecht geträumt. Sie hatte sich einen Kaffee gekocht, den Garten und das braune, glitschige Laub betrachtet und gesehen, dass ihre Mutter bereits wach war. Geschminkt stand sie unter dem Dach des Gartensitzplatzes und rauchte. Marlboro. Schon seit Ewigkeiten diese Zigaretten in der roten Packung. Nina hatte die Terrassentür geöffnet und gefragt: »Kaffee?«

Die Mutter hatte genickt: »Schwarz.«

Zwischen ihren roten Fingernägeln stiegen weiße Fäden in die Luft. Sie rauchte die Zigaretten jedes Mal nur halb und zündete sich an jeder Zigarette die nächste an. Im Aschenbecher schwammen viele Zigarettenenden, auf jedem ein Lippenstiftabdruck. Sie sahen aus wie geküsst. Nina hatte zwei Tassen Kaffee geholt, hatte ihre warme Winterjacke mit dem Fellkragen angezogen und sich zu ihrer Mutter gestellt. Sie mussten ein lustiges Bild abgeben, hatte Nina gedacht. Sie, mit ihren hellen, wirren Haaren, Schlafanzug und gesteppter Jacke, ihre Mutter in Batikbluse, grauen Leggings, roten Ballerinas, geschminkt, angezogen, als hätte sie sich in der Jahreszeit geirrt.

»Ist dir nicht kalt?«

Die Mutter hatte den Kopf geschüttelt.

»Ich schenke Fanny Geld. Ich weiß nicht, wofür sie sich interessiert.«

Ninas Handgelenke hatten zu jucken begonnen, und sie kratzte sich.

Die Mutter fuhr sie scharf an: »Lass das!«

Nina hatte sich gebückt, um nasse Blätter aufzuheben, die ihre Haut kühlten. Ihre Hände wurden kalt und ihre Finger k